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Chor der Stadt Wiesbaden

Seit über 160 Jahren ist der Chor der Stadt Wiesbaden, den Carl Bogler 1847 ins Leben rief und in dem heute rund 70 Sängerinnen und Sänger aktiv sind, ein wichtiger Faktor im städtischen Musikleben. Neben seinen Aufführungen in Wiesbaden ist er zu Gastauftritten im In- und Ausland unterwegs.

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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentierte das Bürgertum in den deutschen Städten seinen sozialen und kulturellen Führungsanspruch dadurch, dass es durch Vereinsgründungen die Zuständigkeit für bestimmte Aufgaben übernahm. Dazu gehörten Musikvereine für die Aufführung größerer Chorwerke.

In Wiesbaden gründete Carl Bogler einen „Gesangverein“ durch das erste gemeinsame Auftreten seiner Damen- und Herrenchöre im Dezember 1847. Anlass war eine Erinnerungsfeier für den gerade verstorbenen Felix Mendelssohn-Bartholdy, dessen Werke einen Schwerpunkt im Programm der folgenden Jahre bildeten.

1854 wurde der „Gesangverein“ zur eindeutigen Identifizierung in „Cäcilienverein“ umbenannt. In dem Jahrzehnt von 1855 bis 1865, in dem der Musikdirektor des Theaters, Johann Baptist Hagen, den Chor leitete, war seine Bedeutung für die Stadt am größten. Denn der Cäcilienverein wollte mit dem Theaterorchester die klassische Musik – nicht nur die Chormusik – in Wiesbaden zu einem festen Bestandteil des kulturellen Angebotes machen und die Bürger dadurch zu einem höheren ästhetischen Bewusstsein erziehen. Dieser Selbstbildung des Bürgertums dienten vier Vereinskonzerte im Jahr, die abonniert werden konnten. Aufführungsorte waren das Hotel Adler und ab 1860 das Kurhaus, drei der vier Termine lagen zunächst außerhalb der Kursaison von April bis September. Es gab gemischte Programme mit Sinfonien, Solistenkonzerten, Opernarien, aber auch vollständige Oratorien.

Die Annexion Nassaus durch Preußen 1866 führte zur Schließung der Spielbank und einer Umorientierung des Kulturangebotes. Der Cäcilienverein wurde in den Kurbetrieb einbezogen und bekam mit dem 1873 gegründeten Kurorchester einen neuen festen Partner. Er war jetzt nur noch Veranstalter von Chorkonzerten, bei denen er selbst auftrat. Unter dem künstlerischen Leiter Karl d’Ester kam es zu Höhepunkten wie der ersten vollständigen Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“ 1877, Werken von Max Bruch unter Leitung des Komponisten und Beethovens „Missa solemnis“. Konzerte zum Karfreitag – von 1877 bis 1907 in der Marktkirche – wurden zur festen Einrichtung. Da man auf die Konzerteinnahmen angewiesen war, wurden die geläufigen Werke von Haydn und Mendelssohn-Bartholdy häufiger gegeben. Dennoch wurden neue Stücke von Berlioz oder Verdis Requiem dem Wiesbadener Publikum bekannt gemacht. Zu Komponisten wie Bernhard Ernst Scholz und Théodore Gouvy bestanden persönliche Beziehungen.

1858 und 1891 richtete der Cäcilienverein in Wiesbaden das Mittelrheinische Musikfest in Wiesbaden aus, an anderen Musikfesten nahm er als Gast teil. Der Chor beteiligte sich ferner an Wohltätigkeitskonzerten und an Aufführungen im Zusammenhang mit öffentlichen Anlässen wie Einweihungen und Denkmalsenthüllungen.

Mit dem Amtsantritt von Carl Schuricht als städtischer Musikdirektor 1912 begann eine neue Epoche für das Kurorchester und den Cäcilienverein, den er mit Unterbrechungen von 1913 bis 1937 leitete. Schuricht machte die Sinfonien Mahlers in Wiesbaden heimisch und erweiterte das Repertoire des Chores außerdem um die Chorwerke Bruckners und die „Messe des Lebens“ von Frederick Delius. Er steigerte künstlerische Bedeutung und Ausstrahlung des Chores.

Nach Krieg und Inflation war eine private Finanzierung der Konzerte in Wiesbaden wie in vielen deutschen Städten nicht mehr möglich. Deshalb wurde der Verein 1924 von der Stadtverwaltung übernommen. Die Reihe der Vereinskonzerte wurde aufgelöst, die Choraufführungen wurden in die Zykluskonzerte des Kurorchesters integriert. 1938 wurde der Cäcilienverein umbenannt in „Chor der Stadt Wiesbaden“. Im Juni 1934 wirkte er mit beim „Ersten Deutschen Tonkünstlerfest im 3. Reich in Wiesbaden“. Von 1933 bis 1944 nahm er Werke von Komponisten in sein Programm auf, die dem Wunsch des NS-Staates nach Stücken mit mittelalterlichen Texten oder über das naturverbundene Landleben entsprachen (Karl Schäfer „Die Kelter“, Oskar von Pander „Des Lebens Lied“). Daneben setzte er aber die Aufführung geistlicher Werke kontinuierlich fort. Werke von Mendelssohn-Bartholdy und Mahler, die einen Schwerpunkt der Chorarbeit gebildet hatten, konnten in der Zeit des Nationalsozialismus nicht aufgeführt werden, wurden aber beim Neubeginn 1947 umgehend wieder ins Programm genommen.

Der Chor bot in der Nachkriegszeit vor allem die klassischen Standardwerke, seit der Zusammenlegung von Kur- und Theaterorchester 1959 wieder in Zusammenarbeit mit dem Theater. Mit dem Vertrag zwischen Stadt, Land und Staatstheater von 1963 wurde die künstlerische Gesamtleitung und Verantwortung für den Chor dem jeweiligen Generalmusikdirektor des Hessischen Staatstheaters übertragen. Generalmusikdirektor Siegfried Köhler bewirkte von 1973 bis 1988 eine Verbreiterung des Repertoires um moderne Werke wie Honeggers „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ und Brittens „War Requiem“. Später kamen die Kantate „Alexander Newski“ von Prokofjew und die Psalmensinfonie von Strawinsky hinzu. Als Partner des Hessischen Staatsorchesters für Chorkonzerte und einziger Wiesbadener Chor mit umfassenden Erfahrungen in weltlichen Chorwerken und Sinfonien, vor allem ab der Romantik, ist der Chor der Stadt Wiesbaden nach wie vor ein wichtiger Faktor um Musikleben. Er gibt außerdem Gastspiele im In- und Ausland. Der Chor umfasst ca. 70 Laiensänger und –Sängerinnen und wurde seit 1992 von Wolfgang Rodi geleitet, dem 2010 Gabriel Dessauer folgte. Seit April 2011 amtiert als Chorleiter Christoph Stiller, Kapellmeister und Chordirektor des Staatstheaters.

Literatur

Verweise