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Goethe in Wiesbaden

Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe hielt sich 1814 und 1815 für mehrere Wochen als Kurgast in Wiesbaden auf. Er genoss das „Schwalbacher Wasser“, die Kurbäder und erkundete die Stadt. Goethe traf sich auch mit namhaften Persönlichkeiten und unternahm Exkursionen in die Umgebung sowie in den Rheingau. Mehrfach war er Gast im herzoglichen Schloss Biebrich. In dieser Zeit, in der ihn eine intensive Liebesbeziehung mit der verheirateten Marianne von Willemer verband, entstanden zahlreiche neue Texte, darunter viele Gedichte des „West-östlichen Divan“.

Goethe, Johann Wolfgang von

geboren: 28. August 1749 in Frankfurt am Main
gestorben: 22. März 1832 in Weimar


Details

Die Zeiten der Napoleonischen Kriege waren dem Reisen nicht günstig gewesen. Nach dem verlorenen Russlandfeldzug 1812 hatte Napoleon erneut Truppen gesammelt; in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 wurden sie jedoch vernichtend geschlagen. Im Frühjahr 1814 marschierten die Armeen der Verbündeten nach Paris und nahmen die Stadt ein. Der Kaiser musste abdanken und wurde auf die Insel Elba verbannt. Man konnte wieder ans Reisen denken.

Ankunft

Statt in die böhmischen Bäder zog es Goethe 1814 in die Rheingegenden, die er lange nicht wiedergesehen hatte. Am 25. Juli brach er von Weimar nach Wiesbaden auf, das er am 29. Juli erreichte. Hier hatte Goethes Freund, der Komponist Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832), ein Logis für Goethe besorgt. Er nimmt zunächst provisorisch im Hotel Adler Quartier, wenig später zieht er ins Hotel Bären um, wo auch Zelter wohnt. „Die Bewegung einer glücklichen Reise .... das erquickliche Schwalbacher Wasser und die .... warmen Bäder wirken schon so gut auf mein ganzes Wesen, daß ich mir das Beste verspreche“, schreibt er Anfang August an seine Frau Christiane (1765 – 1816). Und er schildert die Lage der Stadt, die „höchst schöne Aussicht“ von den Taunushängen und den Anblick des Rheins. „Ich will mir das alles recht ansehen.“ Die Reise sollte auch zu einem Aufbruch in eine neue Phase dichterischen Schaffens werden.

Die politischen Ereignisse hatten Goethe belastet, hinzu kamen gesundheitliche, altersbedingte Beschwerden; auch waren seine schriftstellerischen Arbeiten ins Stocken geraten. Im Mai – also kurz vor Reiseantritt – hatte er von seinem Verleger Johann Friedrich Cotta (1764 – 1832) den „Divan“ (persisch für „Versammlung“) des persischen Dichters Hafis (14. Jh.) in der neuen Übersetzung Joseph von Hammers (1774 – 1856) erhalten. Schon früh hatte sich Goethe mit den Kulturen des Vorderen Orients (u.a. durch Vermittlung Johann Gottfried Herders, 1744 – 1803) vertraut gemacht. In einer fernen Zeit fand er nun allgemein-menschliche Lebensformen, in Hafis einen Autor, in dem er sich selbst neu erfahren konnte. Schon auf der Fahrt entstanden – als produktive Antwort auf diese frühen Texte – eigene Gedichte. Und Goethe hoffte, sich so aus der gegenwärtigen, noch immer gefährdeten Welt in eine ideelle flüchten zu können, „auf heitere Weise den Westen und Osten … zu verknüpfen“. Am Beginn seines „West-östlichen Divan“ steht (in der späteren Anordnung) das „Hegire“ („Flucht“) betitelte Gedicht (in Analogie zum arabischen „Hedschra“, der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina), dessen Eingangszeilen („Nord und West und Süd zersplittern/Throne bersten, Reiche zittern/Flüchte du, im reinen Osten/Patriarchenluft zu kosten“) auf die aktuellen politischen Ereignisse anspielen. Der „Divan“ wird Goethes dichterische Imagination während des gesamten Wiesbadener Aufenthalts – und darüber hinaus – begleiten.

Erste Schritte. Begegnungen

Nun, da er sich eingerichtet hat in der Kurstadt, sieht er sich in Wiesbaden um. Da sind zunächst die sich wiederholenden Programmpunkte: Die Bäder („schon beläuft sich die Badeliste [auf] über 3000“ – bei insgesamt 3500 Einwohnern!), die Trinkkur mit dem (täglich frisch gelieferten) „Schwalbacher Wasser“ und die Spaziergänge (häufig zusammen mit Zelter). Die Mahlzeiten nimmt er häufig an der Table ď Hôte im Kursaal ein (der Badwirt im „Bären“ darf seine Gäste nicht selbst bewirten); dort finden sich über hundert Gäste ein („...diesen ... mit Tafelreihen ausgerichtet zu sehen, woran köstlich gespeist und getrunken wird, das ist so was wonach man lüstern seyn könnte“). An Sonntagen ist er zur Tafel häufig ins Schloss Biebrich geladen, die Residenz des Herzogs Friedrich August von Nassau-Usingen.

Von Beginn an unternimmt er Rundgänge innerhalb des Stadtgebiets sowie Ausflüge in die nähere Umgebung. So erkundet er etwa die Wege vom Sonnenberger Tor bis zum Kurhaus, den Warmen Damm und die „Allee“ (die heutige Wilhelmstraße), die Reste der alten Stadtmauer und den Geisberg. Seine Gänge und Fahrten wird er ausdehnen. Und er geht seinen künstlerischen und literarischen Interessen nach. So gilt seine Aufmerksamkeit dem von Christian Zais errichteten Kurhaus, dessen klassizistische Architektur dem an der griechisch-römischen Antike orientierten Kunstideal Goethes nahe kommt. Der Erbauer hatte 1809 auf Veranlassung des in Weimar ansässigen Oberhofmeisters und Architekten Wilhelm von Wolzogen Weimar zu Studienzwecken besucht und nach dortigem Vorbild die prächtige Ausstattung des Kurhauses veranlasst. Die Säulen des Kursaals waren antiken Vorbildern nachempfunden („das Ganze ist imposant“). Im Kurhaus (und im Biebricher Schloss) wurde am 28. August 1814 auch Goethes 65. Geburtstag begangen. Ferner besucht er – nicht zuletzt aus beruflichen Gründen in seiner Eigenschaft als Intendant des Weimarer Hoftheaters – das Schauspiel, das zu dieser Zeit im Schützenhof untergebracht war; es wird von auswärtigen Schauspieltruppen bespielt (das Hoftheater war 1813 wegen der Kriegsgefahr geschlossen worden). Häufig hält er sich auch in der Bibliothek auf, deren Sammlungen sein Interesse finden.
Bald kommt es auch zu Begegnungen mit Vertretern des Adels, der Politik, der Kunst und der Wissenschaft. Da ist zum einen der Herzog mit seiner Familie. Ferner trifft er u.a. mit dem herzoglichen Minister Ernst Marschall von Bieberstein und dem Direktor der Ministerialkanzlei Carl von Ibell zusammen sowie mit dem Leiter der Wiesbadener öffentlichen Bibliothek, Bernhard Hundeshagen, dessen Sammeltätigkeit und historische Kenntnisse er schätzt. Kontakte bestehen auch zu dem Frankfurter Diplomaten und Schriftsteller Johann Isaak von Gerning, dessen Kunstsammlung auf eine Anregung Goethes hin zum Grundstein für die Sammlung Nassauischer Altertümer des Wiesbadener Museums werden sollte. Ferner besucht er wiederholt die an den Erziehungsmethoden Johann Heinrich Pestalozzis (1746 – 1827) orientierte Elementarschule Johannes de Laspées. Besonders intensiven Austausch pflegt Goethe mit dem Oberbergrat und Mineralogen Ludwig Wilhelm Cramer (1755 – 1832), dessen Mineralienkabinett reiches Anschauungs- und Studienmaterial bietet. Das gilt auch von der Naturaliensammlung Christian Friedrich Habels, die dessen Sohn, Friedrich Gustav Habel, Goethe präsentiert. In Begleitung Cramers besucht er verschiedene Steinbrüche innerhalb und außerhalb des Stadtgebiets. Die Beschäftigung Goethes mit den Gesteinen war mehr als ein Ausdruck rein naturwissenschaftlichen Interesses und resultierte auch nicht vordergründig aus seinen Weimarer Erfahrungen als Vorsitzender der dortigen Bergwerkskommission. In der Natur, besonders in den Gesteinen, glaubte er vielmehr die Festigkeit und Dauer zu finden, die er in der Bewegtheit und Unbeständigkeit inneren Erlebens suchte. Die Mineralogie begleitet seine Wochen in Wiesbaden, auch die Exkursionen von Wiesbaden aus, auf denen er Steine sammelt, selbst Gesteinsproben nimmt, auch geschenkt erhält und nach Weimar schicken lässt.
Zusammen mit Zelter und Cramer reist er vom 15. bis 17. August in den Rheingau. Über Walluf, Eltville, Oestrich, Winkel, Geisenheim und Rüdesheim gelangt er nach Bingen, wo er das Fest zu Ehren des heiligen Rochus miterlebt. Während der vorangegangenen Kriege war die Rochuskapelle zerstört und nun – auch als Symbol für das zurückeroberte linke Rheinufer – wieder errichtet worden. Die – während der französischen Besatzung verbotene – Wallfahrt (am 16. August) hatte damit neben der religiösen auch eine politische Bedeutung. Goethe lässt sich von der heiteren Rheinlandschaft und vom Leben der Menschen dort einfangen, erwähnt aber auch die noch deutlich sichtbaren Folgen der Zerstörung. Überlegungen zur Wiederherstellung in den Kriegen beschädigter Kunstschätze sollte Goethe im kommenden Jahr zu einer entsprechenden Initiative veranlassen. Schon am Tag seiner Rückkehr nach Wiesbaden beginnt er mit Vorstudien zu seinem Reisebericht über das „Sankt-Rochus-Fest in Bingen“.

Divan, eine Reise

Daneben setzt er seine laufenden Tätigkeiten fort. Er unterhält eine umfangreiche Korrespondenz, führt ein Tagebuch, informiert sich über literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen sowie die aktuelle politische Lage und fertigt Auszüge aus Werken unterschiedlichster Fachgebiete an. Und er widmet sich seinen schriftstellerischen Arbeiten, darunter der Schilderung seiner „Italienischen Reise“, die er als eine Art Selbstbegegnung und Selbstreflexion erlebt. Gedichte zum „West-östlichen Divan“ entstehen in rascher Folge. In dem Dichter Hafis entdeckt er einen Geistesverwandten, einen „Zwilling“, und er begibt sich mit ihm gleichsam auf eine „Reise“ (wie er den Zyklus auch genannt hat) zwischen Orient und Okzident, Gegenwärtigem und Vergangenem, eine geistige Reise. „Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst“, schreibt Goethe, „ist, was wir ... Geist nennen“. Und er reist vom „Buch des Sängers“, mit dem er in den Osten („des Ursprungs Tiefe“) aufbricht, bis zum „Buch des Paradieses“. Die Reise ist eine Spiegelung einer östlichen in einer westlichen Welt und umgekehrt („Nur wer Hafis liebt und ehrt/Weiß was Calderón gesungen“, heißt es im „Buch der Sprüche“). Dabei werden Themen und Motive aus orientalischen Dichtungen übernommen; Anlehnungen an formale Elemente sind eher selten.
Die Themen sind mannigfaltig: Poesie, Liebe, der Wein, die Natur, Zeitkritik, bis hin zu „Höherem“ und „Höchstem“, das sich sprachlicher Gestaltung und Fassbarkeit eigentlich entzieht. Dem sinnlichen entspricht immer ein geistiges Moment – so ist die Liebe immer auch geistige Liebe, die Trunkenheit immer auch geistiger Rausch, das Endliche Spiegel des Unendlichen. Poetisches Gestaltungsmittel ist das Symbol. „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, lässt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol...“, schreibt Goethe in seiner „Witterungslehre“. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, wird es im „Chorus mysticus“ am Ende von „Faust, zweiter Teil“, heißen. Kurz nach seiner Ankunft in Wiesbaden entsteht Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ mit dem - Hafis entlehnten - Bild des „Schmetterlings“, der beim Flug in die „stille Kerze“ den „Flammentod“ stirbt, in Goethes Text einem Dasein als „trüber Gast“ auf der „dunklen Erde“ entkommt und eine höhere Form der Existenz gewinnt („Und so lang du das nicht hast,/Dieses: Stirb und werde!/Bist du nur ein trüber Gast/Auf der dunklen Erde“). Dieser Prozess des „Stirb und werde“ begegnet bei Goethe häufig; brieflich und gesprächsweise erwähnt er diesen Vorgang auch während seines Wiesbadener Aufenthalts; er nennt ihn auch „Verjüngung“ und „Wiedergeburt“. Sie wird auch dem „Divan“ neue Impulse verleihen.
Am 4. August 1814 erhält Goethe in Wiesbaden Besuch von Johann Jacob von Willemer (1760 – 1838), dem ihm seit langen Jahren bekannten Bankier und Kunstmäzen aus Frankfurt, und dessen Pflegetochter Maria Anna (Marianne) Jung (1784 – 1860, ursprünglich Mitglied einer Schauspiel- und Ballett-Truppe), die dieser im folgenden Monat heiratet. Im September und Oktober wird Goethe Gegenbesuche abstatten. Zwischen ihm und Marianne sollte sich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung entwickeln, die Öffentlichkeit erfährt davon nichts.

Abschied und Wiederkehr

Nach seiner Abreise aus Wiesbaden am 12. September verbringt Goethe einige Tage in Winkel im Hause der Familie Brentano und unternimmt von dort Ausflüge in den Rheingau; nach den Besuchen bei den Willemers reist er nach Heidelberg zu den Brüdern Sulpiz (1783 – 1854) und Melchior Boisserée (1786 – 1851), die dort eine bedeutende Kunstsammlung altniederländischer und altdeutscher Malerei zusammengetragen haben. Die Begegnung mit dieser Kunst wird auch bei Goethes zweiter Wiesbadenreise nachwirken. Inzwischen wachsen dem „Divan“ weitere Texte zu. Goethe betreibt intensive Studien der Kultur und Geschichte des Orients und nimmt auch Kontakte zu Vertretern der wissenschaftlichen Orientalistik auf. Durch diese Beschäftigungen fühlt er sich der Zeit „entrückt“. Im September 1814 hatte der Wiener Kongress Verhandlungen über eine territoriale Neuordnung Europas aufgenommen. Im März 1815 bricht Napoleon von der Insel Elba auf und zieht in Paris ein. Wieder sammeln die Alliierten Truppen und der Krieg beginnt von Neuem. Aber auch wenn es sich „draußen am Rhein“ angesichts der aktuellen politischen Lage „höchst unerfreulich wohnen läßt“ – schreibt Goethe im April an Zelter – hat „Wiesbaden mir gar zu wohl gethan und ich möchte es gern wiederholen“.

Am 27. Mai 1815 trifft er – nach einer Fahrt „durch marschierende Kolonnen“ – erneut in Wiesbaden ein. Wieder logiert er im „Bären“, wieder absolviert er sein Kurprogramm gewissenhaft, wieder trifft er mit Gesprächspartnern aus dem vergangenen Jahr zusammen. Wieder unternimmt er auch Exkursionen, so zur Klostermühle bei Klarenthal, auf die Platte, den Geisberg. Schon bald kann er mitteilen: „Nun bin ich so ziemlich eingerichtet, ich wohne allerliebst ... esse gut ... bade in dem heilsamen Wiesbade[n], das alles bekommt mir recht gut, und ich kann thätig sein“. Er arbeitet weiter an der „Italienischen Reise“ („ich dictire“ – schreibt er – „sogar im Bade“), es entstehen neue „Glieder“ des „West-östlichen Divan“, zu dem er – wegen der Fülle der neu entstandenen Texte – ein Register (das so genannte „Wiesbadener Register“) anlegt. Und er ist – nachdem ihn schon auf der Herfahrt die „guten Geister des Orients“ wieder besucht haben – quasi in deren Sphäre eingetaucht. „Die Rosen blühen vollkommen, die Nachtigallen singen ... und so ist es keine Kunst sich nach Schiras zu versetzen“ – womit er auch auf die Liebe der Nachtigall zur Rose, ein Motiv orientalischer Dichtung, anspielt.
Wie 1814 ist Goethe auch im Theater anzutreffen. Diesmal beschäftigt er sich besonders mit den Bühnenbildern; über die aufgeführten Stücke und deren Autoren schweigt er wie im Vorjahr. Er lässt sich „nach Beendigung des Schauspiels, wenn die Erleuchtung noch vollständig ist, mehrere Dekorationen zeigen“, wo er „im Großen“ sieht, „was wir im Kleinen schon kennen und was bei uns [d.h. in Weimar] größer ausgeführt werden soll“. Der Theatermaler Friedrich Christian Beuther (1777 – 1856) wurde 1815 Bühnenbildner in Weimar. Goethe stellt auch Überlegungen zu möglichen Engagements nach Weimar an; in diesem Zusammenhang nennt er – wie schon 1814 – Philippine Lade (1797 – 1879), die Schwester des Hofapothekers Johann August Lade, die mit Goethe auch das Theater besucht und ihn auf einigen Ausflügen begleitet. Ein weiteres Interesse gilt der Bautätigkeit und der Stadtplanung in Wiesbaden. „Gebaut wird hier sehr viel ... Es gibt Straßen, die der größten Stadt Ehre machen würden ... Aufgeregt [d.h. angeregt] zu diesem Bauen werden die Einwohner durch die günstigsten Umstände. Die Plätze erhalten sie von der Herrschaft, ein ansehnliches Baudouceur dazu [also einen Bauzuschuss], dagegen sie vorschrift[s]mäßig bauen müssen.“ Und Goethe verweist auf die hiesigen Steinbrüche, die zum Teil das Material dazu liefern. Er lebt „wie im tiefsten Frieden ... Sähe ich sonntags in Biebrich nicht Östreicher und Preußen, so wüßte ich gar nicht daß Krieg bevorsteht....“, schreibt er am 17. Juni, und erhält schließlich am 21. des Monats Kenntnis vom Sieg der Alliierten über Napoleon bei Waterloo (am 18. Juni). „Die großen Nachrichten des Verlustes [der Verbündeten] erst, dann des Gewinns trafen hier heftig“. Wiesbaden erscheint ihm nun sogar als ein Ort, an dem „alle Radien der jetzigen Weltbewegungen zusammenlaufen“. Auch der Vertreter Frankreichs auf dem Wiener Kongress, Charles Maurice de Talleyrand (1754 – 1838), hält sich in der Stadt auf.
Zwischen dem 21. und dem 31. Juli unternimmt Goethe in Begleitung des Freiherrn Karl vom und zum Stein (1757 – 1831) eine Reise rheinabwärts bis Köln. Dort besucht er – neben dem Dom – unter anderem verschiedene Privatsammlungen mit Werken mittelalterlicher Kunst, darunter die von Ferdinand Franz Walraf (1748 – 1824). In seinem dadurch erregten Interesse an der Kunst des Mittelalters – bei insgesamt sehr wechselhaften Beziehungen – gibt es Berührungspunkte mit den Romantikern, wenn auch sein Kunstgeschmack weiterhin der Antike verpflichtet bleibt. Stein regt Goethe zu einem Memorandum an die preußische Regierung an, um nach der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Neuordnung des europäischen Staatensystems den neuen Machthabern am Mittelrhein – auch mit Blick auf die kriegsbedingten Zerstörungen – Maßnahmen zur Sanierung, Erhaltung und Förderung von Kunstschätzen sowie von entsprechenden Institutionen nahe zu legen. In Wiesbaden beginnt Goethe mit Vorarbeiten zu diesen kulturpolitischen Plänen. Zusammenhängend wird er über die besichtigten Baudenkmäler und Kunstschätze in „Kunst und Altertum am Rhein und Main“ (1816) schreiben. Im Sinne des Memorandums richtet er, noch von Wiesbaden aus, auch ein Schreiben an den Fürsten Clemens Wenzel von Metternich (1773 – 1859).

Lyrisches Zwiegespräch. Epilog

Am 22. August reist er in Begleitung Sulpiz Boisserées aus Wiesbaden ab. Im August und im September ist Goethe dann mehrmals bei der Familie von Willemer zu Gast. Die Liebesbeziehung zwischen Goethe und Marianne von Willemer findet Ausdruck in Gedichten des „West-östlichen Divan“, jedoch nicht als ein Abbild von Wirklichkeit, sondern – gespiegelt in einer west-östlichen Welt – als deren Ästhetisierung. Es werden orientalische Namen für die Liebenden gefunden, „Hatem“ und „Suleika“. Und es tauchen östliche Motive auf, so „Bulbul“, die Nachtigall, und „Hudhud“, der Liebesbote, die Zypresse als Sinnbild für die Geliebte und der „Gingo biloba“ – im Autograph vom 15.September 1815 „Gingko biloba“ –, der, von Osten kommend, auch in Europa heimisch gewordene Gingkobaum, dessen Blatt in der Mitte einen Einschnitt aufweist, als wären es zwei Blätter, die zusammengewachsen sind. Diese Erscheinung fügt sich in Goethes Vorstellung von der Polarität als Lebensprinzip und vom Bezogensein zweier Pole – hier der Liebenden – aufeinander: Liebe als Natur, als persönliche Erfahrung („dass ich eins und doppelt bin“) und als kosmisches Ereignis. Das Gingkoblatt lässt sich auch als Anspielung auf den von Platon im „Symposion“ ausgeführten Gedanken von den ursprünglich zusammengehörigen, einander suchenden Hälften lesen. Auch in seinen Schriften zur Naturforschung suchte Goethe Naturvorgänge als polare Prozesse zu fassen, so in seiner Farbenlehre, in der er die Farben aus dem Aufeinandertreffen von Licht und Dunkel entstehen lässt. Das „doppelte“ Gingkoblatt findet im lyrischen Dialog eine Entsprechung, der sich zwischen Goethe und Marianne entwickelt. Marianne wird zur Dichterin, sie „antwortet“ – im „Buch Suleika“ – auf Goethes Verse, sie übernimmt auch ein Motiv des Hafis, den „Ostwind“, der zu dem Geliebten hinweht, und sie spricht „west-östlich“, indem sie ihm den „Westwind“ an die Seite stellt („Was bedeutet die Bewegung/Bringt der Ost mir frohe Kunde?“ und „Ach, um deine feuchten Schwingen,/West, wie sehr ich dich beneide“). Goethe nimmt ihre Texte in den „Divan“ auf, ohne sie – aus Gründen der Diskretion – als die ihren zu kennzeichnen. Beide werden – nach einem nochmaligen kurzen Treffen in Heidelberg – in Verbindung bleiben, sie werden einander Briefe schreiben und Gedichte senden – auch „Chiffren-Gedichte“ mit verschlüsselten Botschaften unter Verweis auf einzelne Strophen und Zeilen bei Hafis; wiedersehen werden sie einander nicht.

Im Juli 1816 setzt Goethe sich in seiner Kutsche, dem „Fahrhäuschen“, wieder nach Wiesbaden in Bewegung, vor Erfurt ereignet sich jedoch ein Unfall. Goethe – obwohl unverletzt – sieht dies als ungünstiges Omen und bricht die Reise ab. Nun wird er – wie vor 1814 – wieder die böhmischen Bäder besuchen. In seinen Wiesbadener Wochen aber hatte er eine „Steigerung“ erlebt, verstanden als höchste Form schöpferischer Lebensäußerung, und eine Art „Verwandlung“. Und es ist wohl kein Zufall, dass er in einem seiner letzten Gespräche mit Sulpiz Boisserée in Wiesbaden ein Phänomen erwähnt, das er als grundlegend für alle Entwicklungsvorgänge in der Natur ansieht „bei den Pflanzen und bei den Tieren bis zum Menschen“: die Metamorphose.

An Goethes Aufenthalte in Wiesbaden erinnern u.a. das Goethe-Denkmal, die Goethe-Warte und der Goethe-Stein. Goethes Werk und Wirken widmete sich die Goethe-Gesellschaft (Literarische Gesellschaften).

Literatur

Werke:



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Burgruine Sonnenberg, um 1830. wiesbaden.de/ Stadtarchiv Wiesbaden, ST-48, Urheber: Bosse/Grünewald
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