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Jugendstil

Die Epoche des Jugendstils hinterließ auch in Wiesbaden in Kunst und Architektur ihre Spuren. An zahlreichen Gebäuden sowie ihrer Innenausstattung finden sich seine Gestaltungsmerkmale.

Details

Die deutsche Bezeichnung „Jugendstil“ leitet sich von der Münchner Zeitschrift „Jugend“ ab, die seit dem Erscheinen ihres ersten Jahrgangs 1896 ein Sprachrohr dieser künstlerischen Bewegung war. Doch war diese Stilbewegung ein europäisches Phänomen und hatte in jedem Land einen anderen Namen und durchaus unterschiedliche Erscheinungsformen. Der Jugendstil in Deutschland (ca. 1895 – 1910) zeichnete sich unter dem Einfluss Frankreichs und Belgiens durch florale und ornamentale Formen einerseits, aber auch unter dem Einfluss der Wiener Secession durch strengere, geometrische Formen andererseits aus. Die den Jugendstil vertretenden Künstler lehnten den Historismus ab und wollten frei von jeder Vorgabe einen zeitgemäßen „modernen“ Stil kreieren, der alle Bereiche künstlerischen und gestaltenden Schaffens durchdringen sollte.

Für die Ausbreitung des Jugendstils in Deutschland war Darmstadt von herausragender Bedeutung. Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868 – 1937) ließ bereits vor 1900 Räume im Neuen Palais in Darmstadt von englischen Jugendstilkünstlern einrichten und förderte vehement die Gründung einer Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe (1899). Und im nahen Bad Nauheim entstanden ab 1903 die Jugendstil-Kuranlagen mit Sprudelhof und Badehäusern. Nachdem sich der deutsche Jugendstil in der Ausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst“ 1901 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt zum ersten Mal in großem Rahmen präsentiert hatte, blieb er auch in Wiesbaden nicht ohne Wirkung, trotz der ablehnenden Haltung Kaiser Wilhelms II. gegenüber der modernen Richtung.

Ein erstes herausragendes Beispiel ist das so genannte „Weiße Haus“ in der Bingertstraße 10, 1901/02 von dem Architekten Josef Beitscher (*1862) als Wohnhaus für seine Familie erbaut. Die ganz unterschiedlich gestalteten Fassaden des pittoresk anmutenden, wie eine Plastik geformten Baukörpers sowie die erhaltenen Teile der Einfriedung sind überreich mit figuralem und vegetabilem, aber auch geometrischem Jugendstildekor versehen. Im Inneren sind vor allem Stuckdecken, Wandfriese und Details der imposanten Halle und des Treppenhauses im modernen Stil gestaltet.

Dem Jugendstil verpflichtet zeigte sich auch der Wiesbadener Architekt Friedrich Werz (1868 – 1953), als er 1901/02 sein bis heute gut erhaltenes Wohnhaus, Dambachtal 20, errichtete. Zur Gestaltung des Hauses außen wie innen zog er den bedeutenden Jugendstilkünstler Hans Christiansen hinzu, einen der ersten sieben 1899 in die Darmstädter Künstlerkolonie Berufenen. Auf Christiansen geht der Entwurf für den breiten freskierten Blumenfries zurück, der die Villa unterhalb des Daches umzieht und im Mittelrisalit bis hinab zum ersten Obergeschoss reicht. Ebenso erstellte er die Vorlagen für die nur in Resten erhaltenen Schmuckverglasungen der Treppenhausfenster und Wohnungsabschlusstüren. Modern sind auch das geschwungene Mansarddach, die flächige Wandbehandlung sowie die Vermeidung von Historismen in der Ornamentik und, ermöglicht durch die zahlreichen Balkone, die vielfältigen Bezüge auf die umgebende Natur.

Neben Christiansen, der von 1912 bis zu seinem Tod 1945 in Wiesbaden lebte, war eine weitere bedeutende Künstlerpersönlichkeit des Jugendstils, der Belgier Henry van de Velde (1863 – 1957), mit einem Werk in Wiesbaden vertreten. Nach seinen Entwürfen entstand 1904 – 1906 die Innenausstattung der Wohnung Kurt von Mutzenbechers in der nicht mehr erhaltenen Villa Augustastraße 4. Eingerichtet wurde auch ein Musikzimmer, das neben dem Mobiliar einen fünfteiligen, in die Wandpaneele eingelassenen Bildzyklus des französischen symbolistischen Malers Maurice Denis (1870 – 1943) enthielt. Dieser verschollene, doch in Abbildungen erhaltene Zyklus zeigte in harmonischen Pastelltönen die Verherrlichung der Musik im himmlischen Paradiesgarten.

Neben diesen frühen, herausragenden Einzelbeispielen der Architektur und der Innenraumgestaltung des Jugendstils finden sich seine floralen, ornamentalen, figuralen und sezessionistischen Formen an unzähligen Fassaden und Ausstattungsdetails von ansonsten noch dem Historismus verpflichteten Gebäuden, insbesondere im Dichterviertel und im Rheingauviertel.

Auch Hotels wurden im modernen Stil erbaut. Das glanzvolle Beispiel hierfür ist das ehemalige Palast-Hotel, das im März 1905 eröffnete. Während die konvex geschwungene Fassade in einem „historisierenden“ Jugendstil erbaut wurde – in der zeitgenössischen Presse war die Rede von „großzügigen Fassaden barocken Charakters mit leichter Pointierung der Formen im Geiste der modernen Richtung“ –, war die reiche und kunsthandwerklich wertvolle Innenausstattung ganz der modernen Richtung verpflichtet. Bis heute erhalten blieb unter anderem die Schmuckverglasung der Kuppel des ehemaligen Wintergartens in sezessionistischen Formen. Auch das bescheidenere, im Mai 1908 eröffnete und noch bestehende Hansa-Hotel („Best Western Hotel Hansa“, Bahnhofstraße 23/ Ecke Rheinstraße) entstand nach Plänen des Architekten Karl Kählers unter dem Einfluss des Jugendstils. Das ehemalige Restaurant-Café, wie das Vestibül in den strengeren Formen des Sezessionsstils gehalten, war in den zwanziger Jahren beliebter Treffpunkt der Künstler Alexej von Jawlensky, Otto Ritschl, Adolf Presber, Josef Vinecký, Edmund Fabry und des Sammlers Heinrich Kirchhoff.

Ein Kleinod des Jugendstils ist das Brunnenhaus der Drei-Lilien-Quelle, ein kleiner (5 x 2,80 m), im strengen sezessionistischen Stil gestalteter Raum an der Rückseite des Hotels Schwarzer Bock. Zwischen 1904 und 1908 entstanden, wurde der lange Zeit vernachlässigte Raum nach gründlicher Sanierung und Restaurierung im August 2011 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Beeinflusst vom Jugendstil ist auch die bemerkenswerte Fassade der Wartburg (Schwalbacher Straße 51), die 1906 als Sängerheim des Wiesbadener Männergesangvereins erbaut wurde. So sind der geschwungene Mittelteil der Fassade und die fließenden Konturen des Giebels sowie die in wellenförmigen Linien geführten Gesimse der Fenster des ersten Obergeschosses und des Figurenfrieses, darüber hinaus auch einzelne Dekorationselemente wie die Masken dem neuen Stil verpflichtet.

Von diesem zeugen ebenso einige großartige Innenraumgestaltungen. Im neuen, 1907 eingeweihten Kurhaus (Kurhaus, neues) tritt er gleich mehrfach an prominenter Stelle in Erscheinung. Der Jugendstilkünstler Fritz Erler schuf die eigenwilligen Fresken im Muschelsaal. Der Münchner Maler Wilhelm Köppen (1876 – 1917), Meisterschüler Franz von Stucks (1863 – 1928), entwarf die farbige Fliesenverblendung der 16 Pfeiler und des Frieses der Parkfassade mit ihren beiden, ursprünglich nur überdachten Terrassen zu beiden Seiten des Mittelrisalits. Jeder Pfeiler zeigt eine schwebend tanzende oder auch musizierende, der antiken Mythologie entnommene weibliche oder männliche Figur, umrahmt von illusionistischen Rankgittern und sich hieran emporwindenden Pflanzen. Und selbst in der prachtvollen Wandelhalle des Kurhauses, in den Pendentifs der Kuppel, ist der Jugendstil präsent in den von dem Münchner Maler Julius Diez (1870 – 1957), wie Erler Mitarbeiter an der „Jugend“, entworfenen vier mosaizierten Medaillons, die jeweils eine antike Gottheit darstellen.

Zu den vollendeten Raumschöpfungen des späten Jugendstils gehört die im November 1911 fertig gestellte Trauerhalle des Südfriedhofs, an deren prachtvoller Ausstattung mehrere Künstler beteiligt waren. Von dem Bildhauer Carl Wilhelm Bierbrauer stammen zwei Supraporten und ein Fries, der einen Trauerzug wiedergibt, im nördlichen Portikus. Im Inneren der dreischiffigen Trauerhalle mit quadratischer Mitte und bekrönender Kuppel war neben dem Bildhaueratelier der deutsch-englischen Brüder Ernest (1879 – 1916) und William Ohly (1883 – 1955) in Frankfurt am Main, in dem unter anderem die reich reliefierten Säulen der Nische hinter dem Katafalk entstanden, auch Hans Völcker tätig, der die Ausmalung des Raumes konzipierte und zum Teil eigenhändig ausführte. Über der circa vier Meter hohen Verkleidung des Raumes aus rötlich-grauem nassauischen Marmor schuf er an der West-, Nord- und Ostseite einen Figurenfries, dessen inhaltliche Aussage sich an der Inschrift der Südempore orientiert: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt / Die Erde bleibet aber ewiglich.“ Ebenso entwarf er in Zusammenarbeit mit seiner Frau Hanna Völcker die üppige Ornamentik der über dem Fries aufgehenden Wandflächen und die ornamental-figurative Ausmalung der Kuppel. Zahlreiche Lieblingsmotive des Jugendstils wie Pfauen, Rosenbüsche, Lilien und ein an Gustav Klimt erinnernder Blumenkranz in der Kuppel sind hier vertreten. Das nördliche, schmuckverglaste Fenster, dessen Entwurf ebenfalls auf Völcker zurückgeht, wurde in der Wiesbadener Werkstatt von Karl und Alfred Geck angefertigt. Die Gestaltung des Raumes wie „aus einem Guss“, die noch das scheinbar unbedeutendste Ausstattungselement in das große Ganze einbindet, und die morbide Farbgebung sind charakteristisch für den Jugendstil.

Zu den dem späten Jugendstil verpflichteten Innenausstattungen gehörte auch die des zwischen 1910 und 1913 erbauten Kaiser-Friedrich-Bades, der heutigen Kaiser-Friedrich-Therme. Die Verantwortung für den Innenausbau und die dekorative Ausstattung lag in den Händen Völckers, der auch hier eng mit Hanna Völcker zusammenarbeitete. Nahezu unverändert erhalten ist das Erdgeschossvestibül, von Völcker entworfen und mit einem sich an allen vier Wänden hinziehenden Fries ausgemalt. Jugendstilformen finden sich des Weiteren im Treppenhaus, hier besonders in den prächtigen Glasfenstern aus der Werkstatt Geck, und im Vestibül des ersten Obergeschosses. Hier blieb der Bilderzyklus des in Wiesbaden geborenen Malers Friedrich Kaltwasser (1889 – nach 1962) erhalten, der in arkadischer Landschaft das Verhältnis von Mensch und Tier zum Wasser thematisiert. Glanzstück des Bades war und ist die historische Schwimmhalle mit den angrenzenden Räumen des Irisch-Römischen Bades im Erdgeschoss. Die keramische Ausstattung der Schwimmhalle entstand in der von Jakob Julius Scharvogel (1854 – 1938) geleiteten Großherzoglichen Keramischen Manufaktur Darmstadt, die malerische – ein Fresko an der inneren Stirnseite und zehn männliche und weibliche Akte in der Fensterzone – wurde von Ernst Wolff-Malm geschaffen. Die in kräftigen Farben gehaltene Keramikverkleidung der an die Halle angrenzenden Heißlufträume sowie deren Brunnen gehen in Entwurf und Ausführung auf Josef Vinecký zurück. Ursprünglich gab es eine von den Vestibülen ausgehende, über die Flure bis in die Baderäume hinein reichende farbige ornamentale Bemalung von Decken und Wänden, die dem Haus stilistische und gestalterische Geschlossenheit verlieh.

Eine weitere überzeugende Schöpfung des Jugendstils ist die Lutherkirche, die 1908 bis 1910 nach Plänen Friedrich Pützers erbaut und am 8. Januar 1911 eingeweiht wurde. Glücklicherweise außen wie innen weit gehend erhalten, kommt der Charakter der Lutherkirche als Gesamtkunstwerk des Jugendstils primär in der kostbaren künstlerischen Ausstattung zum Ausdruck, dem gemeinsamen Werk zahlreicher Künstler. Die Brüder Rudolf (1874 – 1916) und Otto Linnemann (1876 – 1961), Glas- und Dekorationsmaler in Frankfurt am Main, entwarfen die – in den Jahren 1987-1992 nach Originalbefunden neu geschaffene – expressive Farbigkeit des Raumes und die das gesamte Kreuzrippengewölbe erfassende symbolträchtige Ornamentierung, eine Kombination von stilisiertem, vegetabilem Rankenwerk und Blüten sowie exotisch-geometrischen Mustern.

Darüber hinaus gestalteten sie die Glasfenster und ein heute nicht mehr zugängliches, aber noch in situ erhaltenes Jugendstilfresko im früheren Brautaufgang. Augusto Varnesi (1866 – 1941), Bildhauer und Medailleur und wie Pützer Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt, konzipierte die durch eine Stiftung ermöglichte, prächtig gestaltete Vorhalle mit mosaiziertem Tonnengewölbe und Tympanon und golden schimmernden mosaizierten Wänden. Ebenso entwarf er die Gestaltung des Vorraumes mit der Taufkapelle und, in Zusammenarbeit mit Pützer, die des Altar- und Chorraumes.

Auf den Goldschmied Ernst Riegel (1871 – 1939), Mitglied der Darmstädter Künstlerkolonie, gehen die Radleuchter, das Altarkreuz und die Bibelauflage zurück. So ist die Lutherkirche trotz mancher Historismen im äußeren Erscheinungsbild einerseits und „Vorgriffen“ auf die sachliche Architektur und den Art déco der zwanziger Jahre andererseits ein einzigartiges, faszinierendes Gesamtkunstwerk des Jugendstils in Wiesbaden.

Literatur