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Marktkirche

Die Marktkirche des Baumeisters Carl Boos löste 1862 die durch einen Brand zerstörte Mauritiuskirche als evangelische Hauptkirche Wiesbadens ab.

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Die 1852 bis 1862 erbaute Marktkirche ist die älteste der vier evangelischen Kirchen der bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Kernstadt und konnte 2012 ihr 150-jähriges Bestehen feiern. Sie ist die Nachfolgerin der am 27. Juli 1850 niedergebrannten alten Mauritiuskirche, deren Anfänge bis in das frühe Mittelalter zurückreichen.

Die Kirchengemeinde erteilte am 26. Januar 1851 dem nassauischen Baurat Carl Boos den Auftrag, einen Bauplatz für die neue „evangelische Hauptkirche“ zu suchen, für den er drei Vorschläge machte: 1. den Weinberg hinter dem Schützenhof, 2. den heutigen Platz auf dem damals Neuer Markt, später Schlossplatz genannten Gelände, 3. die alte Stelle am heutigen Mauritiusplatz. Letztere schied jedoch aus, da das Gelände für einen deutlich größeren Neubau nicht ausgereicht hätte, denn die Zahl der Einwohner Wiesbadens war inzwischen von circa 2.500 im Jahr 1800 auf circa 13.000 Einwohner im Jahr 1850 angestiegen, von denen die meisten evangelische Christen waren. Der Kirchenvorstand entschied sich mit den sechs Stimmen der Laien gegen die fünf Stimmen der Geistlichen für den heutigen Standort. Die Geistlichen und Boos selbst hatten den Weinberg favorisiert, wo sich die Kirche ihrer Ansicht nach in hervorragender Lage, die Stadt beherrschend, befunden hätte. Die Laien jedoch bevorzugten die bequemer zugängliche Lage in der Stadtmitte.

Da Carl Boos durch den Bau des Ministerialgebäudes inzwischen so renommiert war, erteilte man ihm den Auftrag direkt und ließ ihm bei der baukünstlerischen Gestaltung der Kirche weitgehend freie Hand. Gefordert wurden jedoch die „in akustischer Hinsicht bewährte Basilikaform“ und ein hoher Turm, der „die Würde der Kirche als Landesdom“ verdeutlichen sollte. Am 14. Januar 1852 wurden seine Pläne genehmigt, im März 1852 wurde mit dem Ausschachten der Fundamente begonnen. Am 22. September 1853 wurde durch Herzog Adolf von Nassau der Grundstein gelegt, 1857 war der Innenausbau abgeschlossen und am 13. November 1862 wurde die neue Kirche geweiht.

Zunächst hatte Boos einen Bau aus Natursteinen vorgesehen, dann aber einen Backsteinbau vorgeschlagen, „wegen der Billigkeit, Schönheit und Dauerhaftigkeit“. Er sandte seinen Bauleiter Alexander Fach nach Berlin, um an der nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841) zwischen 1824 und 1830 erbauten Friedrichswerderschen Kirche den Ziegelrohbau zu studieren.

In Wiesbaden gab es auch damals schon Kritiker, die Neuerungen bekämpften. Fragen wie die nach dem Baumaterial und dem Baustil der geplanten Kirche wurden durchaus kontrovers diskutiert. Schließlich bat die Landesregierung im Herbst 1854 den zur Kur in Wiesbaden weilenden badischen Architekten Heinrich Hübsch (1795 – 1863) um ein Gutachten. Boos persönlich legte ihm die Pläne vor. In seinem Gutachten lehnte Hübsch die gotischen Bauformen und den Backsteinbau als ortsfremd ab und plädierte für den frühchristlichen Rundbogenstil. Auch schien ihm der Turm zu hoch. Am Ende seines Gutachtens, aus dem der Kunsthistoriker Clemens Weiler zitiert, heißt es jedoch, er zweifele nicht daran, „daß Herr Baurat Boos, dessen Tüchtigkeit ich hoch schätze, auch in seiner nunmehr begonnenen Weise eine schöne Kirche hinstellen werde“.

Boos ließ sich durch die Einwände des zehn Jahre älteren, noch ganz dem Klassizismus verhafteten Kollegen nicht beirren, sondern erhöhte den Hauptturm um weitere 60 Fuß auf 300 Fuß (etwa 92 Meter). Dass er fünf Türme wählte, geht auf die frühgotische Stiftskirche in Limburg zurück, die 1827 zum Dom des neu geschaffenen Bistums Limburg erhoben wurde und deren fünf Türme 1863 um weitere zwei vermehrt wurden. Durch die turmreich bewegte Silhouette wirkt die Marktkirche gotischer als ihr Vorbild, die Friedrichswerdersche Kirche in Berlin, bei der Schinkel als Klassizist die Türme für die Glocken zwar benötigte, sie aber sehr niedrig konzipierte.

Doch wie die Kirche Schinkels gehört auch das Werk von Carl Boos noch jener romantischen Baukunst an, die klassizistisches Baumassengefühl und klassizistische Ornamentik mit neugotischen Formen verbindet. So sind bei der Marktkirche die Dächer flach geneigt und hinter Maßwerkgalerien versteckt, während die mittelalterliche Gotik hohe Dächer liebte. Auch ist die gesamte Ornamentik des Hauptportals, der Emporen und der Ausstattung noch klassizistisch. Die gotischen Formen verteidigte Boos mit den Worten, dass sie „die Schwere des Materials überwinden, den Beschauer mit in die Höhe ziehen oder sein bescheidenes Dasein in Demut fühlen lassen“ würden und „das christliche Empfinden voll zum Ausdruck“ brächten. Boos beabsichtigte aber keine sklavische Nachahmung der Gotik, da er „die Bildung seiner Zeit mehr in klassischen Studien als in einer sich abschließenden religiösen Gefühlsrichtung“ begründet sah. Dies bringt der Bau auch außen wie innen in seiner Ausgewogenheit von klassizistischen und gotischen Gestaltungsprinzipien zum Ausdruck. Die heutige Farbigkeit des Innenraums der Marktkirche wurde in den 1960er-Jahren nach der ursprünglichen rekonstruiert, die nach Boos‘ eigenen Worten in einem „lichtgrauröthlichen Ton“ gehalten war, nur durch „das Weiss der Kapitäle und Ornamente“ unterbrochen.

Die prächtigen gebrannten Tonornamente, „Terrakotten“, am Außenbau, insbesondere am Hauptportal, wurden nach Entwürfen Boos‘ in der „Thonwaaren- und Fayencefabrik“ von Johann Jacob Höppli hergestellt.

Im April 1863 wurden die fünf Marmorstatuen der Christus-Evangelisten-Gruppe des Bildhauers Emil Alexander Hopfgarten im Chor aufgestellt, eine Stiftung Herzog Adolfs, der seinen Platz auf der Empore gegenüber der Kanzel hatte. Das Vorbild der Christusfigur ist die Christusstatue von Bertel Thorvaldsen (1770 – 1844), die in der Frauenkirche von Kopenhagen in ein Retabel eingebunden steht. In Wiesbaden hat Hopfgarten aber durch die Einbindung seines Christus in das „lebende Bild“ mit den vier Evangelisten ein eigenständiges Werk geschaffen. Sicher stammt allerdings nur die Christusfigur von Hopfgartens Hand, die Evangelisten meißelte sein Schüler Scipione Jardella.

Die Orgel der Marktkirche stammt in ihrem wesentlichen Klangbestand aus dem Jahr 1863 und wurde von der Orgelbauwerkstatt Eberhard Friedrich Walcker & Cie., Ludwigsburg, gebaut. Auch das originale Gehäuse blieb erhalten. Nach mehreren Umbauten und Erweiterungen zählt sie heute zu den bedeutendsten großen romantischen Orgeln in Deutschland.

1986 wurde im Hauptturm der Kirche ein Glockenspiel, das Carillon, installiert, das zusammen mit den fünf Läuteglocken aus 49 Bronzeglocken besteht.

Die originalen Fenster der Marktkirche sind bei der Bombardierung Wiesbadens am 2./3. Februar 1945 zerstört worden. Die vorhandenen farbigen Chorfenster entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, das mittlere, eine Auferstehung Christi, zwischen 1947 und 1949 nach einem Entwurf der Frankfurter Künstlerin Lina von Schauroth (1874 – 1970), die beiden seitlichen, die Geburt Christi 1955 und die Kreuzigung 1960 nach Plänen des Malers Rudolf Kattner. Im Jahr des 150-jährigen Jubiläums 2012 erhielt die Marktkirche drei neue Fenster im südlichen Seitenschiff, die von dem Wiesbadener Künstler Karl-Martin Hartmann (*1948) entworfen und in den Derix Glasstudios in Taunusstein hergestellt wurden. Die im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtigen Fenster spannen in Wort und Bild den Bogen von der Schöpfungsgeschichte über Martin Luther bis in die Gegenwart.

Die Marktkirche in Wiesbaden ist der erste monumentale Backsteinbau Nassaus und gemeinsam mit Schinkels Friedrichswerderscher Kirche in Berlin das bedeutendste Zeugnis für den neugotischen Kirchenbau im romantischen Historismus Deutschlands. Sie ist deshalb zu einem Baudenkmal von besonderer kultureller nationaler Bedeutung erklärt worden.

Literatur





Verweise

Kolorierter Stich eines unbekannten Künstlers, um 1880. wiesbaden.de/ Stadtarchiv Wiesbaden, ST-77, Urheber: unbekannt
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