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Aufbau-Ausschuss und Bürgerrat

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Kaum waren die US-Kampftruppen 1945 in Wiesbaden eingerückt, bat Heinrich Roos einige befreundete Bürger zu einem Sondierungsgespräch. Schon am nächsten Tag wurde ein Ausschuss zur Re-Demokratisierung initiiert, der nicht zuletzt der baldigen Wiederherstellung der kommunalen Handlungsfähigkeit dienen sollte.

Dieses am 29.03.1945 basisdemokratisch ins Leben gerufene Gremium wurzelte in einem überparteilichen Freundeskreis zumeist linksliberal orientierter Oppositioneller, die sich während der NS-Gewaltherrschaft um Roos geschart hatten, um unter anderem vom Regime Verfolgte materiell und mental zu unterstützen. Der Aufbau-Ausschuss verstand sich als »Vertretung aller antinationalsozialistischen Kräfte der Bürgerschaft«. Seinen Vorsitz hatte zunächst Karl Helwig inne, während Roos als Geschäftsführer und Ludwig Schwenck, über den eine der drei konspirativen Verbindungen der Gruppe zu den Verschwörern des »20. Juli« gelaufen war, als Schatzmeister fungierten.

Daneben wurde eine spezielle Kommission für Verhandlungen mit den Amerikanern gebildet. Diese bat man, den früheren Regierungsrat Martin Nischalke als Sprecher des Aufbau-Ausschusses anzuerkennen. Außerdem wurde bereits im April 1945 der Wunsch vorgebracht, von der US-Militärregierung bei der Besetzung aller entscheidungsrelevanten Positionen in der Stadt beratend hinzugezogen zu werden. Aber vorerst war der Ausschuss, der seine tatkräftige Unterstützung bei der »Ausrottung des Nationalsozialismus in Wort und Tat« zugesichert hatte, von den Amerikanern lediglich geduldet, nicht jedoch legitimiert. Gleichwohl beteiligte er sich recht rührig an der politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsmäßigen Reorganisation; in den Vororten und in den bald darauf nach Wiesbaden eingegliederten Mainzer Ortsteilen wurden Unterausschüsse gebildet.

Der Gesamtausschuss konnte mit Einverständnis der Militärregierung allmonatlich zusammentreten, ein engerer, nur aus wenigen Mitgliedern bestehender Arbeitsausschuss tagte allwöchentlich. Rasch war der Aufbau-Ausschuss auf fast 50 Mitglieder angewachsen, meistens Liberaldemokraten, aber auch Konservative sowie Sozialdemokraten und einige Kommunisten waren darunter. Etliche seiner Mitglieder übten wichtige öffentliche Ämter aus, so Philipp Holl und Heinrich Roos als hauptamtlicher Stadtrat bzw. als Bürgermeister, Ferdinand Grün an der Spitze des Arbeitsamtes, Karl Schöppler als Vorsitzender der Handwerkskammer und Dr. August Amann als Präsident der Industrie- und Handelskammer Wiesbaden.

Der Aufbau-Ausschuss agierte in der Überzeugung, die Mehrheit der Einwohner der Stadt hinter sich zu haben, und zwar wegen seiner überparteilichen Ausrichtung, weil ihm zahlreiche Honoratioren aus Kommunalpolitik und Verwaltung angehörten und wegen seines dezidierten Bekenntnisses zur Demokratie, wodurch er auch die Besatzungsmacht hinter sich wusste. Zu seinen Aufgaben gehörten unter anderem die Organisierung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen, die gerechte Wohnraumverteilung, die Trümmerbeseitigung, die Unterstützung beim Wiederaufbau des Gesundheitswesens und der ärztlichen Versorgung, die Hilfestellung beim Wiederaufbau der Wirtschaft sowie die Mitarbeit bei der Entnazifizierung und der Fürsorge für vormalige NS-Verfolgte.

Anfang April versuchte der Ausschuss, sein Mitglied Nischalke zum Präsidenten der neuen Bezirksregierung ernennen zu lassen, doch die Amerikaner bestimmten am 01.05. den früheren Reichsrundfunkkommissar Dr. Hans Bredow für diesen Posten und ernannten Nischalke zum Vizepräsidenten. Auch als Oberbürgermeister war Letzterer vorgeschlagen worden, aber für dieses Amt hielten die Amerikaner Georg Krücke für besser geeignet und setzten ihn am 21.04.1945 in sein früheres Amt ein.

Diverse Unstimmigkeiten zwischen dem Aufbau-Ausschuss einerseits und Krücke sowie Bredow andererseits wurden erst ausgeräumt, nachdem die Besatzungsmacht den Aufbau-Ausschuss Anfang Juni offiziell anerkannt hatte. Als wenig später ein Nachfolger für Bredow zu bestimmen war, folgte der Chef der Militärregierung Oberst James R. Newman der Bitte des Aufbau-Ausschusses und ernannte nun Nischalke zum neuen Regierungspräsidenten.

Einen Monat darauf beantragten Sozialdemokraten und Kommunisten die Umbildung des Ausschusses zu einem paritätisch besetzten Gremium für die Zeit bis zur kommenden Stadtverordnetenwahl. Nach zähen, zeitraubenden Verhandlungen zwischen den Christdemokraten und den Vertretern der beiden in der Zwischenzeit zu einem Einheitsausschuss zusammengeschlossenen Arbeiterparteien wurde am 22.11.1945 der Bürgerrat Wiesbaden (BRW) ebenfalls als »Vertretung der antinationalsozialistischen Kräfte« aus der Taufe gehoben. Die drei damals zugelassenen Parteien CDU, SPD und KPD waren mit jeweils 16 Mitgliedern vertreten, während sogenannte freie Kreise (FK), wie die Demokratische Einheitsgewerkschaft Wiesbaden, die Kirchen, die Wirtschaft und der Handel usw., zusammen zwölf Vertreter in diesen Rat entsandten. Dessen Leitung übernahm der neue SPD-Vorsitzende Johannes Maaß, der diese Funktion zuletzt auch im Aufbau-Ausschuss ausgeübt hatte und nun im Vorstand durch den Kommunisten Hans Quarch sowie von Ludwig Schwenck als FK-Vertreter unterstützt wurde.

Die wichtigsten Projekte des BRW waren ein Winter-Nothilfe-Programm, die Schaffung eines Kontrollgremiums für den Arbeitskräfteeinsatz sowie die Erarbeitung einer Kommunalverfassung. Gegen Jahresende konstituierte sich auch in Biebrich ein Bürgerrat. Beide Räte steigerten ihre Effizienz durch jeweils einen engeren Arbeitsausschuss, eine Reihe von Spezialkommissionen sowie einen Anfang 1946 geschaffenen Beirat, der dem Oberbürgermeister direkt zugeordnet war.

Nachdem am 26.05.1946 erstmals wieder freie Stadtverordnetenwahlen durchgeführt worden waren, hatte auch der BRW seinen Zweck als kommunales Vorparlament erfüllt und wurde alsbald aufgelöst. Da die Kommunisten, die Liberalen und die Bürger- und Bauernpartei allesamt an der von den Amerikanern befohlenen 15-Prozent-Hürde gescheitert waren, zogen lediglich die CDU mit 31 und die SPD mit 29 Mandaten in die Stadtverordnetenversammlung ein. Diese trat erstmals am 02.06.1946 in der Aula der damaligen Gewerbeschule in der Wellritzstraße zusammen und wählte am 25.07. den christdemokratischen Spitzenkandidaten Hans Heinrich Redlhammer fast einstimmig zum neuen Oberbürgermeister.

Zur Bewältigung der vielen drängenden sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Probleme bildeten die beiden einzigen seinerzeit im Kommunalparlament vertretenen Parteien eine Koalition, die den ersten wieder demokratisch konstituierten Magistrat mit acht haupt- und acht ehrenamtlichen Stadträten paritätisch besetzte.

Literatur

Glaser, Heike: Demokratischer Neubeginn in Wiesbaden. Aspekte des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus nach 1945, Wiesbaden 1995 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden 4).

Ulrich, Axel: Demokratischer Neubeginn in Wiesbaden: von den antifaschistischen Bürgerausschüssen und den Anfängen der politischen Reorganisation. In: Schacht, Hessen 1945 [S. 29–70].