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Frauen- und Mädchenbildung in Wiesbaden

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Die Frauen- und Mädchenbildung in Wiesbaden nahm ihren Anfang zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der von Carl Philipp Salomo Schellenberg gegründeten »Privattöchterschule«, die am 14.11.1805 ihre Tätigkeit in der alten »Stadtschule« am Mauritiusplatz aufnahm. Wenig später genehmigte Herzog Friedrich August zu Nassau die Gründung einer »Latein- und Töchterschule« am selben Ort. Diese am 06.08.1807 eingeweihte »Friedrichschule« stand unter der Oberaufsicht der evangelischen Kirche.

In den folgenden Jahren fanden zahlreiche Schulneugründungen statt, die sich entweder ausschließlich an Schülerinnen richteten oder deren Unterrichtung zumindest in ihr Konzept miteinbezogen. Hierzu gehörte die 1809 eröffnete Privaterziehungsanstalt von Johannes de Laspée, die 1811 eingerichtete »weibliche Schulanstalt« der Witwe Magdalene Friedel oder das Institut Bönig in der Friedrichstraße. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden weitere Mädchenschulen, zumeist in Form von Internaten oder »Pensionaten«.

Die Schülerinnen, die aus dem In- und Ausland in das aufstrebende Wiesbaden kamen, lebten zumeist in Gruppen von 16 bis 18 Mädchen in eleganten Villen entlang der Fresenius-, der Kapellen- oder der Rheinstraße, z. B. im »Pensionat Bernhardt«, im »Pensionat Halliwick«, im »Pensionat und Höherer Töchterschule Hermine Wolff« oder im »Scholz’schen Institut«. Unterrichtet wurden sie in Deutsch, Englisch und Französisch, in Welt- und Kunstgeschichte, Musik, Malen, Geografie, Bürgerkunde sowie Naturwissenschaften. Natürlich durften auch typisch weibliche Fächer nicht fehlen, darunter Pädagogik, die auf die Kindererziehung vorbereitete, sowie Handarbeit einschließlich der »Grundprinzipien in Häuslichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit«.

Das Schuledikt vom 24.03.1817 sorgte für eine Vereinheitlichung des bisher weitgehend ungeordneten Bildungswesens in Nassau, die Einführung der Schulpflicht für Jungen und Mädchen sowie der Simultanschule. Der Besuch der neuen Realschulen war den Schülerinnen vorerst nicht gestattet. Die 1830 trotz der Proteste der Eltern geschlossene »Töchterschule« fand ihre Fortsetzung erst mit der 1847 gegründeten »Städtischen Höheren Töchterschule«, die Mädchen der gebildeten Stände den Zugang zur höheren Schulbildung ermöglichte.

1866 unterrichteten fünf Lehrerinnen und sieben Lehrer insgesamt 270 Mädchen, darunter 21 aus dem Ausland. Sie besuchten das Lyzeum, wie der neue Name der Anstalt für »Höhere Töchter« nun lautete, bis zum 16. Lebensjahr. Anschließend konnten sie auf weiterführende Schultypen überwechseln, z. B. das Oberlyzeum, das aus der »Frauenschule« oder dem »Höheren Lehrerinnenseminar« bestand. Die »Frauenschule« diente der Allgemeinbildung mit haus- und volkswirtschaftlicher Orientierung. Der Besuch des »Lehrerinnenseminars« befähigte die Absolventinnen an einer höheren Mädchenschule zu unterrichten. Seit 1901 verfügte das Lyzeum über eine Oberstufe und ein Volksschullehrerinnenseminar sowie ein eigenes Schulgebäude am Schlossplatz unmittelbar neben der Marktkirche.

 Zwischen 1908 und 1909 entstand an der Dotzheimer Straße ein Neubau, das sogenannten Graue Haus. 1909 entschloss man sich zur Gründung des sogenannten Lyzeums II (seit 1955 »Elly-Heuss- Schule«), dessen neu errichtetes Schulhaus am Boseplatz (heute Platz der Deutschen Einheit) im Mai 1916 bezogen wurde und auch das Oberlyzeum vom Schlossplatz aufnahm. Bis 1930 war das Lyzeum II zahlreichen Veränderungen unterworfen. 1921 wurde das bis dahin an der Schule übliche wissenschaftliche Oberlyzeum durch eine »Frauenschule« und ein daran angegliedertes Seminar für Technik und Turnlehrerinnen sowie Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Hauswirtschafterinnen ersetzt und der Leitung der Schlossplatz- Schule unterstellt. 1927 kehrte das wissenschaftliche Oberlyzeum an den Boseplatz zurück, und ab 1930 war es dann möglich, dass die Mädchen am – inzwischen sogenannten – Städtischen Oberlyzeum die Reifeprüfung ablegen konnten, wodurch ihnen der Weg zum Studium offenstand.

Aber nicht nur die »höhere Mädchenbildung« erfuhr in diesen rund 60 Jahren eine gravierende Veränderung. Auch die sogenannte Bürgerschule, die auf die Mittelschicht abzielte, erlebte eine Wandlung. Der Besuch der 1858 eingerichteten »Mittelschulen« qualifizierte die jungen Frauen für die Aufnahme einer Ausbildung als Gewerbeschul- oder Zeichenlehrerin sowie für den Eintritt in die mittlere Laufbahn der Staats-, Eisenbahn-, Post- oder Telegrafenverwaltung.

In der NS-Zeit dominierten die Vorgaben von Staat und Partei den gesamten Unterricht. Neben der »völkischen Erziehung« der Mädchen wurde besonderer Wert auf ihre körperliche Ertüchtigung und die Herausbildung praktischer Fähigkeiten gelegt. Ziel der weiblichen Erziehung war die »kommende Mutter«, die in erster Linie für Haushalt und Familie lebte. In der Schule sollten daher vor allem hauswirtschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, außerdem Säuglings-, Kranken- sowie Tier- und Pflanzenpflege. Das traditionsreiche »Institut St. Maria« des katholischen Frauenordens der »Englischen Fräulein«, das 1893 in einer Villa in der Mainzer Straße gegründet worden war und Mädchen auf den Besuch einer Universität vorbereitete, wurde 1939 von den Nationalsozialisten geschlossen. Bis März 1945 fand im Lyzeum II, wenn auch durch die Kriegseinwirkungen behindert, Unterricht statt. Das am Schlossplatz gelegene Lyzeum I hingegen wurde beim Bombenangriff vom 02./03.02.1945 fast völlig zerstört und nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut.

Seit der Wiedereröffnung der Schulen im Herbst 1945 hatten die jungen Frauen die Wahl zwischen einer sozialwissenschaftlichen, neusprachlich, mathematisch-naturwissenschaftlichen oder musisch orientierten Schulausbildung. Die »Elly-Heuss-Schule« (EHS), wie die Anstalt inzwischen hieß, blieb eine reine Mädchenschule. Erst zu Ostern 1966 wurde die Koedukation eingeführt. 1971 zogen die anderen Mädchenschulen nach. Das Prinzip der Koedukation hatte sich durchgesetzt. Gleiches galt für die Idee, Mädchen und Jungen die gleiche, ihren Fähigkeiten und Talenten entsprechende Bildung zukommen zu lassen.

Literatur

Baumgart-Buttersack, Gretel: Wie war das mit den Töchter-Pensionaten? In: Wiesbadener Leben 12/1992 [S. 10–13].

Struck, Wolf-Heino: Wiesbaden als nassauische Landeshauptstadt. Teil I: Wiesbaden in der Goethezeit (1803-1818), Wiesbaden 1979 (Geschichte der Stadt Wiesbaden Bd. 4).

Struck, Wolf-Heino: Wiesbaden als nassauische Landeshauptstadt. Teil II: Wiesbaden im Biedermeier (1818–1866), Wiesbaden 1981 (Geschichte der Stadt Wiesbaden Bd. 5).

75 Jahre Elly-Heuss-Schule Wiesbaden, Wiesbaden 1982.