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Gerichtsbarkeit

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Seit dem 13. Jahrhundert wurde die Gerichtsbarkeit in Wiesbaden durch das Schöffengericht ausgeübt. Den Vorsitz führte der vom Grafen eingesetzte Oberschultheiß, der zudem eine übergeordnete Funktion in der Gerichtsbarkeit der gesamten Herrschaft Wiesbaden innehatte. Er berief die Gerichtsversammlung ein und leitete sie. Die Urteilsfindung war den Schöffen vorbehalten. Erst im 18. Jahrhundert erlangte der Oberschultheiß Einfluss auf die Urteilsfindung. Inzwischen war der Posten mit einem Fachjuristen besetzt und wandelte sich dadurch allmählich zum Richteramt. Das Schöffengericht war sowohl für die Zivil- als auch die Strafgerichtsbarkeit sowie die Freiwillige Gerichtsbarkeit zuständig. Die Blutgerichtsbarkeit übte es im Auftrag des Landesherrn bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts aus. Danach war das neu gegründete Kriminalgericht für schwere Verbrechen zuständig. Die Justizpraxis richtete sich nach der im Februar 1517 von Graf Phillip dem Altherrn (1511–1558) erlassenen peinlichen Halsgerichtsordnung, später nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532. Diese galt bis in das 18. Jahrhundert und wurde durch die hessen-darmstädtische Kriminal- und Peinliche Gerichtsordnung von 1726 ergänzt.

Als Wiesbaden 1744 Sitz der nassauischen Regierung wurde, zog auch das Hofgericht nach Wiesbaden, das als Appellationsinstanz fungierte. Darüber gab es keine weitere Instanz, da dem Fürstenhaus das »privilegium de non appellando« (Appellationsprivileg) nicht zustand. Auch das in unterster Instanz zuständige »Amt« war in einem Gebäude des Schlosses, dem »Amtshaus«, untergebracht. Der Oberamtmann als Vertreter des Fürsten hatte in Kriminalsachen die Verbrecher zu ergreifen und die Untersuchung durchzuführen. Die vorbereiteten Fälle musste er anschließend dem Hofgericht vorlegen. Bei geringen Vergehen konnte der Amtmann Gefängnis- und Geldstrafen verhängen. Für die Freiwillige Gerichtsbarkeit war der Schultheiß zuständig. Er übte auch eine gewisse Polizeigewalt aus, besaß jedoch im späteren 18. Jahrhundert keine richterlichen Funktionen mehr. Trotz dieser ersten Ansätze einer Trennung von Regierung und Gerichtsbarkeit behielt sich der Landesherr als alleiniger Inhaber der Regierungsgewalt die letzte Entscheidung in Strafprozessen vor.

Von den politischen Veränderungen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb aber auch in Wiesbaden die Justiz nicht unberührt. Anfang Juli 1804 wurde dem Gesamthaus Nassau das »privilegium de non appellando illimitatum« verliehen. Es besaß damit das Privileg, seinen Untertanen generell zu untersagen, in einem Rechtsstreit vor ihren obersten Gerichten das Reichsgericht anzurufen. Mit dem »Fürstlich Nassauischen Gesamt-Oberappellationsgericht« in Hadamar (ab 1810 in Diez) wurde zum ersten Mal eine gemeinsame Oberbehörde für Nassau-Usingen, Nassau-Weilburg und Nassau-Oranien errichtet. Auch nach 1806 bildeten die Ämter die unterste Instanz der Gerichtsbarkeit, die Hofgerichte in Wiesbaden und Dillenburg waren die zweite, das Oberappellationsgericht in Hadamar dritte Instanz. Das »Criminalgericht« am Michelsberg war nur untersuchende Behörde. Noch immer war das Strafverfahren geheim und schriftlich. Deshalb waren Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Prozesse sowie die Einrichtung von Geschworenengerichten und die Trennung von Justiz und Verwaltung Inhalt der berühmten »Forderungen der Nassauer« vom 02.03.1848.

Im Frühjahr 1849 wurde der privilegierte Gerichtsstand für Angehörige des Adels, höherer Staatsdiener und Militärpersonen aufgehoben. Auch hörten die letzten Reste der Patrimonialgerichtsbarkeit auf zu existieren. Justiz und Verwaltung wurden in der untersten Instanz getrennt, die Ämter als Justizämter weitergeführt. Schließlich wurden Schwurgerichte eingeführt und bei ihnen Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verfahren. Man erließ ein neues Strafgesetzbuch, das dem im benachbarten Großherzogtum Hessen-Darmstadt nachgebildet war. Das Hof- und Appellationsgericht zog 1849 in das ehemalige Hotel Schützenhof. Schon zwei Jahre nach der Revolution wurden die im Rahmen der Gerichtsbarkeit erzielten Fortschritte wieder zurückgefahren. Eine neue Entwicklung setzte 1866 mit der Angleichung der nassauischen Justizorganisation an die preußische ein. Im Regierungsbezirk Wiesbaden wurden nun elf Amtsgerichte, drei kollegialisch eingerichtete Kreisgerichte und ein Appellationsgericht mit Sitz in Wiesbaden eingerichtet. Am 01.10.1879 traten die sogenannten Reichsjustizgesetze – Zivilprozessordnung, Strafprozessordnung, Konkursordnung, Rechtsanwaltsordnung und Gerichtsverfassungsgesetz – in Kraft. Mit dem Gerichtsverfassungsgesetz wurde im gesamten Deutschen Reich eine einheitliche Gerichtsorganisation errichtet. Diese setzte sich aus Amts-, Land-, Oberlandesgerichten sowie dem Reichsgericht in Leipzig zusammen. In Wiesbaden wurden aufgrund der neuen Gesetzeslage ein Amts- und ein Landgericht errichtet. Das Amtsgericht Wiesbaden ist ein selbstständiges Gericht mit einem eigenen Präsidenten an der Spitze. Weitere in Wiesbaden ansässige Gerichte sind das Arbeits-, Sozial- und das Verwaltungsgericht.

Literatur

Bleymehl-Eiler, Martina: Stadt und frühneuzeitlicher Fürstenstaat: Wiesbadens Weg von der Amtsstadt zur Hauptstadt des Fürstentums Nassau-Usingen (Mitte des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts), 2 Bde., ungedr. Diss., Mainz 1998.

Schultze, Werner; Faber, Rolf: 100 Jahre Landgericht Wiesbaden 1879–1979. Landgericht Wiesbaden (Hrsg.), Wiesbaden 1979 mit weiteren Nachweisen.