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Industrie- und Handelskammer (IHK)

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Die nassauischen Industriekammern gehen auf das Gesetz vom 03.09.1863 über die Errichtung von Handelskammern zurück und sollten Handel und Verkehr fördern. Eine Ausführungsverordnung von 1864 teilte das Herzogtum Nassau in drei Kammerbezirke und bestimmte als Sitze Dillenburg, Limburg und Wiesbaden. Der Bezirk der Handelskammer (HK) Wiesbaden umfasste die Ämter Idstein, Usingen, Reichelsheim, Königstein, Höchst am Main, Hochheim, Wiesbaden, Eltville, Rüdesheim, St. Goarshausen, Nastätten, Langenschwalbach und Wehen. Beitragspflichtig und wahlberechtigt waren alle Kaufleute, die ein ins Handelsregister eingetragenes Geschäft auf eigene Rechnung oder als persönlich haftende Gesellschafter betrieben. Im Amt Wiesbaden waren dies 276 Einzelkaufleute und 34 Gesellschaften. Alle Wahlberechtigten wählten nach einem demokratischen Wahlsystem – wobei Frauen (bis 1920) kein Wahlrecht hatten und sich gegebenenfalls durch einen Prokuristen vertreten lassen mussten – für eine Amtsperiode von sechs Jahren insgesamt 18 Mitglieder, von denen die Hälfte jedoch durch Los nach drei Jahren ausschied, aber wiedergewählt werden konnte. Nach einem Formfehler in der ersten Wahl kamen die Wahlberechtigten aus Stadt und Amt Wiesbaden am 03.10.1864 ein zweites Mal zusammen, um die acht auf sie entfallenden Mitglieder zu wählen. Weil die nassauische Regierung die Wahl des liberalen Politikers Karl Braun erfolgreich anfocht, konnte die konstituierende Sitzung der HK Wiesbaden erst am 11.02.1865 stattfinden. Zum Vorsitzenden wurde der Rüdesheimer Weinhändler Theodor Dilthey, zu seinem Stellvertreter der Wiesbadener Kaufmann Karl Glaser gewählt. Auf Dilthey folgten der Lederfabrikant Carl August Lotichius aus St. Goarshausen (1867–82), Rudolf Koepp, Gründer der Koepp Chemischen Fabrik in Oestrich (1888–97) und Franz Fehr-Flach, Inhaber der Wiesbadener Stanniol- und Metallkapselfabrik (1897–1920), der seit 1917 den Titel »Präsident« führte.

Die HK Wiesbaden verfügte lange weder über eigene Geschäftsräume noch über hauptamtliche Kräfte. Die Aufgaben wurden unter den Mitgliedern aufgeteilt. Ein Kammersekretär fungierte als Schriftführer. Seine Wohnung war zugleich auch Kammerbüro. Die Sitzungen fanden über Jahrzehnte im Rathaus oder in verschiedenen Gaststätten Wiesbadens statt. Mit dem preußischen Gesetz über die Handelskammern vom 24.02.1870 erhielt auch die HK eine neue gesetzliche Grundlage. An den Aufgaben und Zuständigkeiten änderte sich wenig. Nach der Einführung der preußischen Kreisverfassung 1890 umfasste der Handelskammerbezirk den Stadt- und Landkreis Wiesbaden, den Kreis Höchst, den Kreis Usingen, den Untertaunuskreis, den Rheingaukreis und den Kreis St. Goarshausen (ohne das vormalige Amt Braubach). Mit Julius Oppermann aus Diez wurde 1873 erstmals ein Sekretär eingestellt, der nicht aus dem Kreis der Mitglieder stammte. Sein Nachfolger Wilhelm Flindt, ebenfalls aus Diez, trug seit 1888 die Bezeichnung »Syndikus«, und dessen Nachfolger, Dr. Reinhold Merbot (1891–1916), war der erste hauptamtliche Kammersyndikus. Unter seiner Geschäftsführung erwarb die Handelskammer 1904 das Haus Adelheidstraße 23 und verfügte damit erstmals über eigene Geschäftsräume. Der zunehmenden Bedeutung des industriellen Sektors wurde 1924 mit der Umbenennung der Handelskammer in »Industrie- und Handelskammer« (IHK) Rechnung getragen. 1928 musste sie die nach Frankfurt am Main eingemeindeten Orte Höchst, Nied und Griesheim an die Industriekammer Frankfurt abtreten.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde durch Erlass des preußischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr vom 24.04.1933 die Preußische Industrie- und Handelskammer für das Rhein-Main-Gebiet mit Sitz in Frankfurt gegründet. Die IHK Wiesbaden verlor formal ihre Eigenständigkeit, blieb aber als Bezirksstelle weitgehend selbstständig. Präsidium und Mitglieder traten im April 1933 zurück. Auch die jüdischen und die für ihre demokratische Gesinnung bekannten Mitglieder gehörten dem neuen Gremium nicht mehr an. Fortan galt das Führerprinzip: Dr. Carl Lüer als Präsident der IHK für das Rhein-Mainische Wirtschaftsgebiet ernannte die Präsidenten der Bezirksstellen, die wiederum ihre Stellvertreter bestimmten. Auf diese Weise war die IHK gleichgeschaltet und die Nationalsozialisten konnten sie für ihre Zwecke einsetzen, etwa bei der sogenannten Arisierung jüdischen Vermögens oder bei der Verteilung ausländischer Zwangsarbeiter.

Zum 01.01.1943 wurden die Industrie- und Handelskammern aufgelöst und mit anderen Wirtschaftsorganisationen in Gauwirtschaftskammern zusammengeschlossen. Noch im April 1945, wenige Wochen nach der Besetzung Wiesbadens, bildete sich die IHK neu. Die amerikanische Militärregierung berief Dr.-Ing. August Amann, Chemische Werke Albert AG, zum Präsidenten und Erich Köhler zum Hauptgeschäftsführer. Auf Köhler, der in die Politik wechselte, folgte 1949 Dr. Wolfgang Weynen. Infolge der Besatzungsgrenzen verlor die IHK Wiesbaden den Kreis St. Goarshausen an die IHK Koblenz, erhielt aber die ehemals Mainzer Stadtteile Amöneburg, Kastel und Kostheim zugewiesen. Obwohl die hesssichen Industrie- und Handelskammern eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielten, verloren sie nach einer Verfügung der Amerikaner zunächst ihren öffentlich-rechtlichen Status. Erst das Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern vom 18.12.1956 (Hess. Ausführungsgesetz vom 06.11.1957) gab ihnen ihre alte Rechtsstellung zurück. Seitdem besteht Pflichtmitgliedschaft für alle Handels-, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen im Kammerbezirk. 1968 erwarb die IHK von der Stadt das von Christian Zais erbaute Erbprinzenpalais, in dem sie bis heute ihren Sitz hat. Heute (2016) betreut die IHK Wiesbaden rund 38.000 Mitgliedsunternehmen.

Literatur

Geisthardt, Fritz: Wiesbaden und seine Kaufleute, Wiesbaden/Stuttgart 1980 (Schriftenreihe Industrie- und Handelskammer 1).

Zehn Jahrzehnte Zeitgeschehen im Spiegel alter Protokolle. Sonderausgabe der Hessischen Wirtschaft, 11.02.1965.