Sprungmarken

Jüdische Geschichte

Artikel

Als kleine Landstadt war Wiesbaden im Mittelalter nur wenig attraktiv für Juden, so dass der 1329 genannte Goyfryet Josib lange Zeit der einzige in der Stadt ansässige Jude war. Er zog 1348 nach Weilnau, wo bereits mehrere Glaubensgenossen unter gräflichem Schutz wohnten. In Wiesbaden hingegen waren es immer nur einzelne Juden, wie der 1367 genannte Spier, der 1385 hier ansässige Kirsan oder Gerson. Vor 1427 bewohnte der Jude Gebhard ein Haus bei der Georgskapelle am Michelsberg. Jüdische Händler besuchten wohl schon seit jeher die Wiesbadener Wochenmärkte; 1486 werden vier von ihnen aktenkundig, weil sie den Zoll nicht bezahlen konnten. Juden waren als Schutzjuden bei den Grafen zu Nassau begehrt, daher sind auch nachdem 1507 der Mainzer Erzbischof ihre Ausweisung aus dem Erzstift verfügte, weiterhin Juden in Wiesbaden nachweisbar. Ihre rechtliche Situation war prekär; Haus- und Grundbesitz war ihnen nicht erlaubt. Für den gräflichen Schutzbrief, den sie jährlich erneuern lassen mussten, zahlten sie zwölf Goldgulden im Jahr. Noch bis 1801 konnten nur der älteste Sohn bzw. die älteste Tochter einer Familie ihrem Vater als Schutzjude nachfolgen. Sie waren auf Gedeih und Verderb von der landesherrlichen Gnade abhängig. Die Wiesbadener Juden, im 16. Jahrhundert waren es zwischen zwei und vier Familien, besaßen kein Bürgerrecht und zahlten jährlich acht Gulden an die Stadt. Sie lebten nicht in einem Getto, auch wenn für die Metzgergasse im 16./17. Jahrhundert der Namen Judengasse überliefert ist und sich hier eine Judenschule befand. Zu dieser Zeit gab es bereits Badhäuser für die jüdischen Klientel, nämlich den »Helm« und den »Stern«. Seit 1573 diente der »Spiegel« für mehr als 300 Jahre als Badhaus für jüdische Kurgäste. Seit dem jüdischen Händler Nathan, der 1638 die Erlaubnis erhielt, sich in der Stadt niederzulassen, sind Juden durchgängig in Wiesbaden bezeugt

Jetzt werden allmählich auch Gemeindestrukturen fassbar: Noch 1687 holten die jüdischen Einwohner den Rabbiner von auswärts zum Gottesdienst, aber zwischen 1700 und 1720 bildete sich endgültig eine Gemeinde heraus. Seit 1760 unterhielt die Gemeinde einen eigenen Rabbiner, Abraham Salomon Dendlau (Tendlau). Sein Sohn folgte ihm im Amt nach. Außer dem Rabbiner wurde die jüdische Gemeinde von einem Vorsteher geleitet, der das Vermögen der Gemeinde zu verwalten und die »Kirchenzucht« zu handhaben hatte. 1713 lebten neun jüdische Familien in Wiesbaden. Die »Judenschule« wurde 1732 von der Metzgergasse (heute Wagemannstraße) in das Badhaus »Zum Rebhuhn« in der Spiegelgasse 9 verlegt, das seit 1724 in jüdischem Besitz war. Damit entwickelte sich die Spiegelgasse zum Zentrum der jüdischen Gemeinde mit Synagoge, Badhaus und vermutlich auch einer Mikwe (Frauenbad). Ihre Toten mussten die Juden allerdings bis 1747 auf dem Friedhof in Wehen begraben. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die Gemeinde auf zehn bis 15 Familien. 1779 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Einwohnerschaft von Wiesbaden 1,9 %. 1732 erließ Fürstin Charlotte Amalie zu Nassau-Usingen eine »Judenordnung«, die bis 1806 gültig war; danach durften Juden weiterhin kein Land erwerben und Häuser nur zum Eigenbedarf besitzen. Neue Synagogen durften nicht erbaut werden. Wer heiraten wollte, musste eine staatliche Erlaubnis einholen. Ein Zinssatz von sieben Prozent durfte bei Handelsgeschäften nicht überschritten werden. Seit der Gründung des Herzogtums Nassau und der damit verbundenen Verlegung des Regierungssitzes nach Wiesbaden 1806 zog die Stadt immer mehr Juden an. Als Synagoge wurde seit 1790 ein Haus an der Oberen Webergasse genutzt. Um 1815 wurde ein Neubau erforderlich. 1824 kaufte die Gemeinde den sogenannten Mahr’schen Gartensaal an der Schwalbacher Straße, der den Bedürfnissen entsprechend umgebaut wurde und rund 200 Menschen Platz bot. Der in Dotzheim geborene Rabbiner Salomon Herxheimer, ein Wegbereiter des liberalen Judentums, hielt bei der Einweihung am 24.02.1826 eine viel beachtete Rede. Ein bedeutender Wiesbadener Rabbiner war Abraham Geiger, der in seinen späteren Jahren zum bekanntesten deutschen Reform-Rabbiner avancierte. Er formte die Wiesbadener Gemeinde zu einer liberalen, jüdischen Einheitsgemeinde, die für ein modernes Judentum »unter Wahrung und Erhaltung der jüdischen Lebensart, Religion und Geisteshaltung«  stehen sollte, verließ die Stadt nach sechs Jahren 1838 aber bereits wieder, weil es nicht zur Einrichtung eines Landesrabbinats kam, das man ihm in Aussicht gestellt hatte. Seine Nachfolger wurden 1838–44 Benjamin Hochstädter und Samuel Süßkind, der bis 1884 amtierte und 1863 den Synagogen-Gesangverein gründete.

Im Herzogtum Nassau galten Juden weiterhin als Schutzjuden und mussten um eine Aufenthaltsgenehmigung nachsuchen, d. h. nach wie vor wurde nicht nur ihre Handels-, sondern auch ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ein erster Fortschritt war die Einführung der Gewerbefreiheit 1819, die Juden zumindest theoretisch die Ausübung jedes Berufes ermöglichte. Kaufleute konnten ihre Waren nun in »offenen Läden« anbieten und mussten nicht länger den Hausiererhandel betreiben. Für eine verbesserte Bildungssituation sorgte die Einführung der Simultanschulen 1817, durch die jüdischen Kindern der Besuch der Grundschule ermöglicht wurde. Seit 1841 zog man Juden unter Wegfall des Schutzgeldes allgemein zur Gewerbesteuer heran. Im gleichen Jahr wurden verbindliche Familiennamen für sie eingeführt. 1843 stellte man Juden in der Armenpflege den Christen gleich. Seit 1844 galt auch für sie die Wehrpflicht. Die 1822 angeordnete besondere Formel für die Eidesleistung von Juden wurde hingegen erst 1861 abgeschafft. Das Amt Wiesbaden gliederte sich in die Synagogenbezirke Biebrich-Mosbach, Bierstadt mit Kloppenheim und Erbenheim, Schierstein mit Frauenstein, Wiesbaden mit Sonnenberg und Dotzheim. In den meisten dieser später eingemeindeten Vororte sind Juden bereits seit dem Mittelalter nachweisbar. Der Wiesbadener Gemeindevorsteher übte eine gewisse zentrale Funktion über sie aus.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog es die Mitglieder der jüdischen Landgemeinden verstärkt in die expandierende Kurstadt, in der sich die »Landjuden« bessere Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte und wohl auch eine liberalere Einstellung in religiösen Fragen erhofften. So zog z. B. der Textilwarenhändler Joseph Maier Baum 1862 mit seiner Familie aus Schierstein nach Wiesbaden, wo er mit der Firma Nassauische Leinenindustrie J. M. Baum zu einem der erfolgreichsten Unternehmer und Bürger der Stadt aufstieg. Während sich die jüdische Gemeinde in Wiesbaden im Verlauf des 19. Jahrhunderts reformierte, dominierten in den Landgemeinden eher konservative Vorstellungen. Dies spiegelt sich in heftigen Auseinandersetzungen v. a. mit dem 1844 vom Staat ernannten Bezirks- und Stadtrabbiner Samuel Süßkind wider. Sein Versuch, Reformen im gottesdienstlichen Leben durchzusetzen, stieß auf den entschiedenen Widerstand konservativ-orthodoxer Kreise in den Dörfern seines Bezirkes. 1857 entließ der Bezirksrabbiner den israelitischen Vorsteher der Bierstadter Gemeinde, weil dieser sich weigerte, die Reformen in die Praxis umzusetzen. Die jüdische Gemeinde in Wiesbaden erlebte in der zweiten Jahrhunderthälfte eine Blütezeit und vergrößerte sich fast sprunghaft: 1846 zählte sie 354 Mitglieder, ca. 2,4 % der Einwohner Wiesbadens. Nach der Jahrhundertmitte verstärkte sich dieser Trend: 1864 gehörten der jüdischen Gemeinde bereits über 920 Personen an. Im Zuge der Revolution 1848 gewährte die herzogliche Regierung am 02.03.1848 die Beseitigung »aller Beengungen der uns verfassungsmäßig zustehenden Religionsfreiheit« (Freie Zeitung Wiesbaden, März 1848, Nr. 1). Doch dieser Fortschritt währt nur drei Jahre, dann wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden wieder zurückgenommen. Erst die Annexion des Herzogtums Nassau 1866 brachte die Emanzipation mit neuen beruflichen Möglichkeiten: Wenn auch die Konzentration auf den Handelssektor bestehen blieb, so erfolgte doch ein beruflicher »Ausdifferenzierungsprozess« und eine Erweiterung der Aufstiegsmöglichkeiten auch in sozialer Hinsicht, etwa durch die Aufnahme in die Vereine der Elite des Bürgertums.

Auf wirtschaftlichem Gebiet hatte die jüdische Bevölkerung einen nicht unerheblichen Anteil an der Entwicklung Wiesbadens zur gefragten Kurstadt. So gründete Samuel Löwenherz 1851 eine Kaltwasserheilanstalt im Nerotal, in der 1855 schon 645 Gäste kurten. Sowohl für die Geschichte der jüdischen Gemeinde als auch der Stadt Wiesbaden war die Familie Berlé von großer Bedeutung: Innerhalb kurzer Zeit hatte sich Marcus Berlé, der in den 1830er-Jahren noch als Glaswarenhändler tätig war, mit der Gründung eines Bankhauses zum Bankier hochgearbeitet. Als im Zuge der 1848er-Revolution die Frankfurter Nationalversammlung die Schließung der Spielbank in Wiesbaden beschloss, erwies sich Berlé als Retter in der Not und gründete die »Gesellschaft zum Betrieb der Cur-Etablissements in den Badeorten Wiesbaden und Ems«, die das Überleben der Einrichtung sicherte. Berlé war Mitglied in angesehenen Vereinen wie der Casino-Gesellschaft und des Gewerbevereins für Nassau und setzte sich für die ökonomische Entwicklung der gesamten Region ein. Seit 1842 auch Vorsteher der jüdischen Gemeinde, engagierte er sich für den Neubau der Synagoge, der auch aufgrund der gestiegenen Zahl der Gemeindemitglieder, inzwischen 550, nötig geworden war. 1869 wurde die Synagoge am Michelsberg im Beisein des Königs von Preußen eingeweiht, an der auch äußerlich die reformierte Haltung der Mehrheit der Wiesbadener Juden ablesbar war: So gab es zum Unmut der orthodoxen Gemeindemitglieder darin eine Orgel. 1876 entstand als erste Austrittsgemeinde in Preußen unter Führung von Rabbiner Dr. Leo Kahn eine eigenständige »Altisraelitische Kultusgemeinde« mit eigenem Gotteshaus und Friedhof. In den Diensten der jüdischen Hauptgemeinde in Wiesbaden standen mit Moses Abraham Tendlau (1802–1878) und Samuel Süßkind zwei Rabbiner, die vorher am Frankfurter Philanthropin gepredigt hatten. Samuel Süßkind prägte in seiner vierzigjährigen Amtszeit (1844–84) das Innenleben der jüdischen Gemeinde wie kein anderer; unter seinen Nachfolgern sind Adolf Kober (1908–18) und Paul Lazarus (1918–38) besonders erwähnenswert. In beiden Gemeinden breitete sich gegen Ende des Jahrhunderts, zunächst eher zaghaft, zionistisches Gedankengut aus und trug zu einem »innerjüdischen« Pluralisierungsprozess bei. Der Religionslehrer Jakob Rosenberg (1876–1942) z. B. wurde 1907 zum Nationalfonds-Kommissar der Zionistischen Organisation ernannt.

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten in Wiesbaden rund 3.000 jüdische Bürger und Bürgerinnen. 57 Wiesbadener jüdischen Glaubens fielen als Soldaten im Ersten Weltkrieg. An sie erinnert ein Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof an der Platter Straße. Zu den Wiesbadener Gemeinden gehörten Einrichtungen und Vereine wie eine »Arbeitszentrale«, eine »Rituelle Küche für den Mittelstand«, Altersheime, Waisenunterstützungsvereine und Beerdigungsgesellschaften, die »Vereinigung jüdischer Frauen«, der »Verband jüdischer Frauen für Kulturarbeit in Palästina«, der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« sowie ein Jüdisches Lehrhaus.

In der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurden die blühenden jüdischen Gemeinden zerstört und ihre Mitglieder entweder vertrieben oder in Konzentrationslagern ermordet. Die Synagoge am Michelsberg und die Synagogen in den Vororten wurden am 09./10.11.1938 demoliert. Im Januar 1942 lebten noch rund 1.000 jüdische Frauen und Männer in Wiesbaden. Fast alle wurden mit den drei großen Deportationen (März, Juni und September 1942) vom Wiesbadener Hauptbahnhof aus in die Vernichtungslager deportiert. Mindestens 1.500 Menschen aus Wiesbaden – darunter mindestens 120 jüdische Kinder und Jugendliche – wurden ermordet.

Literatur

Bembenek, Lothar: Das jüdische Badehaus »Zum Rebhuhn« in Wiesbaden. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, München 1992.

Haberkorn, Peter: Der lange Weg der Gleichberechtigung. Die Emanzipation der Juden im Herzogtum Nassau 1806–1866, Wiesbaden 2004.

Kober, Adolf: Die Juden in Nassau seit Ende des 18. Jahrhunderts. In: Nassauische Annalen 66/1955 [S. 220–250].

Lazarus, Paul: Die jüdische Gemeinde in Wiesbaden 1918–1942, New York 1949.