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Ökumene

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Das aus dem Griechischen kommende Wort Ökumene meint ursprünglich die ganze bewohnte Erde. Ökumenische Fragen betreffen danach die ganze Welt. Sie zielen auf die Einheit der Menschheit Gottes, im engeren Sinn die Einheit der Kirchen. Das 20. Jahrhundert wird als ein ökumenisches Zeitalter des Zusammenfindens und Zusammengehens bezeichnet. Diese Einheit meint keine Vereinheitlichung, sondern Einheit in versöhnter Verschiedenheit.

Wiesbaden ist durch die protestantische Tradition geprägt. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts mussten katholische Christen aus Wiesbaden in Frauenstein ihre Gottesdienste besuchen. Das sollte sich ändern, als 1831 die erste katholische Stadtkirche geweiht werden sollte. Sie stürzte jedoch kurz zuvor ein, so dass erst 1849 der Nachfolgebau St. Bonifatius geweiht werden konnte. Nachdem 1850 die evangelische Stadtkirche in Flammen aufgegangen war, erhielten die Protestanten in der noch nicht ganz fertig gestellten Kirche St. Bonifatius die Möglichkeit, ihre Gottesdienste zu feiern. Dennoch entsprach diesem ökumenischen Gestus im Großen und Ganzen eher ein Neben- als ein Miteinander der evangelischen und der katholischen Kirche. Das begann sich in den 1960er-Jahren zu ändern.

Heute laden evangelische und katholische Gemeinden gegenseitig zu Festen ein, die Leitungsgremien treffen einander regelmäßig, in einigen Stadtteilen gibt es einen gemeinsamen Gemeindebrief, Kinder-, Jugend-, Senioren- oder Bildungsarbeit werden an vielen Orten gemeinsam durchgeführt, man feiert ökumenische Gottesdienste und geht miteinander auf Reisen. Dem entspricht, dass sich auf Stadtebene die Vorstände beider Kirchen zweimal jährlich treffen und viele Aktivitäten gemeinsam verantwortet werden: z. B. die Telefon- und Krankenhausseelsorge, die Nacht der Kirchen oder die Kooperation von Caritasverband Wiesbaden-Rheingau-Taunus und Diakonischem Werk im sozialen Bereich.

Seit dem 19. Jahrhundert wurden in Wiesbaden auch Kirchen für Christen anderer Nationalitäten und Konfessionen gebaut, so die Russisch-orthodoxe Kirche der heiligen Elisabeth und die anglikanische Kirche Church of St. Augustine of Canterbury (auch Englische Kirche). Die christlich-konfessionelle Welt der deutschen Bevölkerung begann sich ebenfalls zu differenzieren: 1900 wurde die Friedenskirche der Alt-Katholischen Gemeinde geweiht, es folgten 1906 die Zionskapelle der Baptisten und 1912 das Gemeindehaus der Methodisten. Andere Evangelische Freikirchen wie die Freie Evangelische Gemeinde und Pfingstgemeinden erweiterten das protestantische Spektrum. Im Zuge der Anwerbung südeuropäischer Arbeitskräfte in den 1950er- und 1960er-Jahren bildeten sich eine italienische, eine spanische, eine kroatische und eine portugiesische Gemeinde, die sich bald in die katholische Stadtkirche integrierten, sowie eine griechisch-orthodoxe und eine serbisch-orthodoxe Gemeinde.

Weitere christliche Gemeinden entstanden seit den 1980er-Jahren im Zuge der weltweiten Migration: z. B. verschiedene baptistische Gemeinden russischen Aussiedler, presbyterianische Gemeinden koreanischer Christen, eine orthodoxe Gemeinde arabisch sprechender Migranten, eine syrisch-orthodoxe, eine assyrische, eine polnisch-katholische, eine koptische und zwei äthiopisch-orthodoxe Gemeinden. Christen verschiedener Konfession und nationaler Herkunft fanden sich ab 1984 in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Wiesbaden (ACK) zusammen.

Im Zuge der weltweiten Migration und Globalisierung haben sich auch in Wiesbaden zahlreiche unabhängige kleine Gemeinden oft charismatischen Typs gebildet. Die Menschen kommen aus Osteuropa, dem arabischen Raum, aus Afrika, aus asiatischen Ländern oder aus den USA. Da die Gemeinden zu klein sind und kaum über finanzielle Mittel verfügen, fragen sie oft über die ACK bei evangelischen oder katholischen Gemeinden an, ob sie dort mit ihren Gottesdiensten, Jugend- und Bibelkreisen unter anderem Aufnahme finden. Viele Gemeinden der beiden großen Kirchen haben inzwischen solche Gastgemeinden. Die Weltchristenheit mit ihren orthodoxen, katholischen, evangelischen, charismatischen und unabhängigen Kirchen bildet sich immer stärker in deutschen Großstädten wie Wiesbaden ab.

Die christlichen Kirchen in Wiesbaden und andernorts leisten durch ihre ACKs einen bedeutenden Beitrag zur Integration und Stabilisierung der Zivilgesellschaft. Sie erkennen die Zeichen der globalisierten Welt und entwickeln alleine oder mit anderen ökumenische Partnerschaften zu Gemeinden oder Regionen anderer Länder, so z. B. das evangelische Dekanat, das eine ökumenische Partnerschaft mit der evangelisch-lutherischen Diözese Breslau, der polnischen Partnerstadt Wiesbadens, und mit der United Church of Christ im amerikanischen Bundesstaat New York eingegangen ist. Die christlichen Kirchen Europas haben sich in den 1980er- und 1990er-Jahren den Fragen internationaler Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung verstärkt zugewandt. Zahlreiche Eine-Welt-, Umwelt- und Friedensgruppen sind daraufhin auch in Wiesbaden entstanden.

In einem lange währenden Prozess ist aus dieser europäischen Bewegung die Charta Oecumenica entstanden, die 2001 von der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der europäischen Bischofskonferenzen unterschrieben wurde. 2007 hat sich die ACK Wiesbaden dieses Dokument nach einem längeren Diskussionsprozess zu eigen gemacht.