Sprungmarken

Reisinger-Anlagen (früher Reisinger- und Herbert-Anlagen)

Artikel

Die Reisinger-Anlagen gegenüber dem Hauptbahnhof verdanken ihre Entstehung den großzügigen Spenden des Kaufmanns Hugo Reisinger und des Apothekers Adam Herbert. Auf dem Gelände bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich eine Gasfabrik sowie der Taunusbahnhof, der Rhein- und der Hessische Ludwigsbahnhof.

Nach Errichtung des Hauptbahnhofs wurden diese Gebäude abgerissen, die Fläche verkam zu einer Industriebrache. Als Reisinger der Stadt 1913 25.000 $ für einen Brunnen stiftete, wurden zunächst verschiedene Standorte in Betracht gezogen, dann aber das Terrain des ehemaligen Salzbachtales ins Auge gefasst. Durch den Ersten Weltkrieg verzögerte sich die Umsetzung und wurde erst Ende der 1920er-Jahre wieder aufgegriffen.

Aus einem Wettbewerb gingen 1931 der Gartenarchitekt Friedrich Wilhelm Hirsch, der Architekt Edmund Fabry und der Bildhauer Arnold Hensler als Sieger hervor. Wichtigstes Ziel war die Freilegung des Geländes. Außerdem sollte eine Brunnenanlage geschaffen werden, die in Form springender Strahlen, die »gleichsam aus dem Wiesengrund« kommen, die Heilquellen symbolisieren sollte. Ein den Hauptweg begleitender Kanal endet an einem Wasserbecken mit der knienden Marmorskulptur einer Quellnymphe von Hensler. 1932 wurde die Anlage der Öffentlichkeit übergeben.

Auf den verbliebenen Flächen befanden sich Sportplätze und Schrebergärten. 1936 fiel die Entscheidung, die von dem Apotheker Herbert gestifteten Mittel für die Erweiterung der Reisinger-Anlage zu nutzen. Die Ausführung der Parkanlage lag erneut in den Händen von Friedrich Hirsch, während der Architekt Ernst von den Velden eine Pfeilerhalle und der Stuttgarter Bildhauer Ludwig Spiegel die monumentale Muschelkalk-Skulptur der Europa auf dem Stier schufen. Die Gartenanlage mit pseudoantiker Wandelhalle weist in ihrer Gestaltung einen Bezug zum Nationalsozialismus auf. Insbesondere die 1,5 Tonnen schwere Muschelkalkskulptur greift typische Stilelemente der NS-Gestaltungsästhetik auf. Die ehemalige Herbert-Anlage diente so auch in ihrer Ikonografie der Darstellung des propagierten Gemeinschaftsgefühls in der lokalen NS-»Volksgemeinschaft«. In ihrer Gestaltung ist bereits die Rezeption durch den Nationalsozialismus erkennbar, in dem der bewusst flächig-statische Illustrationsstil in Verbindung mit der Sgraffiti-Technik, die handwerklich-solide Auffassung dieser architekturgebundenen Monumentalmalerei unterstreichen will. Die »Europa-Anlage« – bzw. Herbert-Anlage – stellt mit ihrer ausladenden »Europa-Programmatik« ikonographisch eine Ausnahme dar. in Deutschland. Sie entstand in dem Jahr, als die ersten offiziellen „Europa“ Darstellungen des deutschen Faschismus auftauchten.

Die neue Anlage mit Wandelhalle und großer Wasserfläche wurde am 6. Juli 1937 eingeweiht. Eine Festrede hielt neben dem Spender, Adam Herbert, auch NSDAP-Oberbürgermeister Erich Mix, der zur Veranstaltung eingeladen hatte. Das Programm wurde vom Kurorchester gerahmt. Zugegen waren die wichtigsten städtischen Repräsentanten ebenso wie hochrangige Vertreter der NSDAP, der SS, der SA, des NSKK sowie der Hitlerjugend und des BDM.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die amerikanischen Truppen die Fläche als Parkplatz. Seit 1950 nahm man die Wiederherstellung der Parkanlage in Angriff. Adam Herbert stellte weitere Mittel für die Schaffung des Diana-Brunnens vor den Rhein-Main-Hallen zur Verfügung.

Heute wird die Parkanlage als Liege- und Spielwiesen und für Open-Air-Veranstaltungen genutzt. Im Zuge des Neubaus eines angrenzenden Kindergartens sowie der Rhein-Main-Hallen erfolgte die Sanierung von Altlasten durch Entfernung der im Erdreich liegenden Reste des Gaswerks sowie die denkmalgerechte Wiederherstellung der historischen Grünfläche von rund 3,4 ha Größe.

Die auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung 2020 berufene Historische Fachkommission zur Überprüfung nach Personen benannter Verkehrsflächen, Gebäude und Einrichtungen der Landeshauptstadt Wiesbaden empfahl die Umbenennung der Herbert-Anlage wegen Adam Herberts Nähe zum NS-Regime. Der zuständige Ortsbeirat Wiesbaden-Mitte folgte der Empfehlung und beschloss am 1. Februar 2024, dass auf den Begriff »Herbert-Anlage« verzichtet werden könne. Der Ortsbeirat bat den Magistrat, dass die Herbert-Anlage in der südlich anschließende Reisinger-Anlage aufgehen solle. Die Stiftertafel solle kontextualisiert werden.

[[Der vorliegende Text wurde 2012 von Martina Clair Michel für die gedruckte Version des Stadtlexikons Wiesbaden erstellt und 2024 von Dr. Katherine Lukat überarbeitet und ergänzt.]

Literatur

Franke, Nils M.: Gutachten zur historischen Entwicklung der Herbert-Reisinger-Anlagen Wiesbaden, Beitrag zum Parkpflegewerk, Wiesbaden 2007.

Sigrid Russ, Bearb., Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.2 – Stadterweiterungen innerhalb der Ringstraße. Hrsg.: Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Stuttgart 2005 [S. 150 ff.].