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Stadtentwicklung

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Das römische Wiesbaden

Bis in das 20. Jahrhundert hinein waren in Wiesbaden die Thermalquellen prägendes Basiselement der Siedlungsgeschichte. Altsteinzeitliche Quellopfer mit ca. 20.000 Jahre alten Fundstücken belegen die Attraktivität der heißen Quellen, die Menschen von Beginn an bewogen haben, sich in unserer Region niederzulassen. Es waren aber die Römer, die, nachdem sie 39 bis 37 v. Chr. das linksrheinische Gebiet um Mainz besetzt hatten, eine erste, nachweisbare Siedlung an den heißen Wiesbadener Quellen erbauten. 83 n. Chr. begann der Bau eines Steinkastells oberhalb der heutigen Innenstadt.

Am Fuß dieses innerstädtischen Hangs, entlang der heutigen Langgasse und um deren Kreuzung mit Michelsberg und Marktstraße herum, entstand die römische Siedlung (»vicus«) »Aquae Mattiacae« oder »Aquis Mattiacis« (An den Mattiakischen Wassern; der germanische Stamm der Mattiaker siedelte zur Römerzeit in unserer Region). Die Langgasse vom Kranzplatz bis zum Mauritiusplatz und ihre Kreuzung mit Michelsberg und Marktstraße blieben als Straßentrasse seit der Römerzeit bis zur Gegenwart im Grundriss der Innenstadt erhalten. Dies kann man als nachhaltigsten Beitrag der Römer zur Wiesbadener Stadtentwicklung bezeichnen.

Die ursprünglich rund 520 m lange Heidenmauer, von der heute noch etwa 50 m erhalten sind, ist die letzte in der Innenstadt Wiesbadens noch sichtbare bauliche Reminiszenz an die Römerzeit.

Vom Mittelalter bis 1800

Das mittelalterliche, 829 erstmals genannte Wiesbaden umfasste mit einem weiträumigen Weiher- und Wassergrabensystem drei Siedlungsbereiche: Den »Stadt« genannten, ummauerten Burgbezirk am heutigen Schlossplatz, den sogenannten »Flecken« als Weiterführung der römisch-mattiakischen Siedlung um die Mauritiuskirche und als Beginn des späteren Quellenviertels das »Sauerland«, einen Siedlungskern im Bereich der stärksten Quellschüttung, des Kochbrunnens.

Ein obrigkeitlich gelenkter Stadtausbau ist seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nachweisbar: In seiner Regierungszeit (1684–1721) förderte Fürst Georg August Samuel zu Nassau-Idstein einen großzügigen Ausbau der Stadt. Mit der Ergänzung der traditionellen Achsen Langgasse und Michelsberg/Marktstraße durch Neugasse und Grabenstraße sowie Mauer-, Weber- und Saalgasse, mit der Spiegelgasse und der äußeren Langgasse am Kranzplatz erhielt in dieser Zeit der Stadtgrundriss der Innenstadt ein bis heute bestehendes Straßensystem. Das Ende des 16. Jahrhunderts im Burgbezirk, etwa auf dem Standort der heutigen Marktkirche, errichtete »Neue Schloss« wurde um 1690 erweitert und die Stadtmauer um 1700 auch um das Sauerland herum geführt.

Von 1690–1721 stieg die Einwohnerzahl von 644 auf 1.321, bis 1800 auf rund 2.500. Wiesbaden überflügelte damit die Residenzstadt Idstein. Bis 1800 wuchs die Stadt nach innen mit baulichen Verdichtungsprozessen. Die Stadtgestalt Wiesbadens bis zum Ende des alten Reiches und dem Einsetzen des epochalen napoleonischen Modernisierungsschubs darf man sich aber trotz der geschilderten Veränderungen durchaus nach wie vor mit dem bekannten, 1655 gedruckten Merian-Stich veranschaulichen, denn die Ausdehnung blieb seit dieser zeichnerischen Bestandsaufnahme bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen gleich.

Die 1744 von Fürst Karl Wilhelm zu Nassau-Usingen vollzogene Verlagerung der fürstlichen Residenz in das Schloss in Biebrich hatte ihre Auswirkungen auch auf Wiesbaden, denn für die Unterbringung der fürstlichen Administration gab es am Standort Biebrich kein passendes Gebäude. Dafür kam als nächstgelegenes nur das »Neue Schloss« in Wiesbaden infrage, und dies war der Beginn der für die Stadtentwicklung bis heute so wichtigen Funktion der Stadt als Regierungssitz.

Stadtentwicklung im nassauischen Wiesbaden 1800 bis 1866

Mit dem Einzug der fürstlich nassau-usingischen Regierung in das »Neue Schloss« im Burgbezirk waren in Wiesbaden erstmals administrative Funktionen konzentriert worden, die über die Aufgaben einer Amtsverwaltung auf unterer Ebene wesentlich hinausreichten. Diese Zuweisung überlokaler Aufgaben wurde bald verstärkt fortgesetzt: Nassau-Usingen war das größere der beiden sich 1806 im Zuge der napoleonischen territorialen Flurbereinigung in Deutschland zum Herzogtum Nassau und Gliedstaat des Rheinbundes zusammenschließenden nassauischen Fürstentümer, und Wiesbaden war mit rund 2.500 Einwohnern die größte Stadt im neuen Staat und schon Regierungssitz eines der Teilfürstentümer. So lag es nahe, dass die Stadt auch zur Hauptstadt des neuen Herzogtums aufstieg.

Nach französischem Vorbild konzentrierten die Regenten dort alsbald alle zentralen Regierungsstellen und die wichtigsten Gerichte. Entsprechend gab es im zentralistisch regierten und verwalteten Einheitsstaat keine kommunale Selbstverwaltung und nur ein sehr begrenztes Mitberatungsrecht von Bürgervertretern bei den Entscheidungen der von der Regierung eingesetzten Schultheißen, den Verwaltungsspitzen in den Städten und Gemeinden.

Die herzogliche Regierung sah sich auch verantwortlich für die bauliche Entwicklung der Stadt und ebenso für die Förderung des Kurwesens. Entscheidende Impulse erhielt Wiesbaden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deshalb von zwei staatlichen Baubeamten, dem nassauischen Baudirektor Carl Florian Goetz und dem nassauischen Bauinspektor Christian Zais. Goetz verdankt die Stadt die Friedrich- und die Nerostraße als erste Stadterweiterungsschritte, vor allem aber auch die Konzeption einer großzügigen Nord-Süd-Promenade östlich der Innenstadt, der Wilhelmstraße.

Noch prägender für die Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert und weit über seinen frühen Tod 1820 hinaus wirkte Zais mit drei innovativen Planungsinitiativen und den damit verbundenen Bauwerken. Mit dem 1810 eingeweihten Kur- und Gesellschaftshaus (altes Kurhaus) und dem neuen Kurschwerpunkt an der oberen Wilhelmstraße gelang ihm der entscheidende städtebauliche Anstoß zur rasanten Expansion Wiesbadens zur Weltkurstadt und »Kaiserlichen Touristenhochburg« des 19. Jahrhunderts.

Die Verwirklichung des Konzeptes von Zais gilt als eine der folgenreichsten Entscheidungen in der Wiesbadener Stadtgeschichte. Das neue Kur- und Gesellschaftshaus und die Folgebauten am Kureck und entlang der Wilhelmstraße gaben der Kommune eine völlig neue, zukunftsweisende kurstädtische Identität. Der von Zais durchgesetzte Bau des luxuriösen Hotels Vier Jahreszeiten (1818–21) und der große betriebliche Erfolg dieses von seiner Familie betriebenen, die bisherigen Standards der Wiesbadener Badehotels in jeder Beziehung weit überbietenden Hauses bewirkte einen Modernisierungs- und Investitionsschub mit erheblichen Qualitätssteigerungen im gesamten konkurrierenden Wiesbadener Hotelgewerbe. Das von Zais 1818 entwickelte und von der nassauischen Regierung alsbald für verbindlich erklärte Stadtplanungskonzept des später sogenannten Historischen Fünfecks erwies sich in der Folge als optimaler Planungsrahmen für die Entwicklung der Stadt bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Stadtplaner des um 1800 neuen klassizistischen Denkens wie Goetz und Zais lehnten die absolutistische Zentralperspektive und Dominanz eines imperialen Mittelpunktes ab. Sie fügten grundsätzlich gleichwertige, selbstständige, begrenzende städtebauliche Elemente, frei stehende und doch aufeinander bezogene Gebäude nach den Gesetzen der Geometrie und Symmetrie zu ästhetisch ausgewogenen, raumbildenden Einheiten zusammen. Den Baumeistern am Beginn des 19. Jahrhunderts ging es mithin nicht nur um die Überwindung äußerlicher Gestaltungselemente wie der »fatalen krummen Linie« und der »übermäßigen Zierlichkeit« (Winckelmann) in Spätbarock und Rokoko. Gegenüber dem aus einer zentralen, imperialen Perspektive auf die Umwelt gerichteten barocken Raumgefühl als Grundlage der Stadtplanung im absolutistischen Fürstenstaat musste das befreite Individuum in der unter dem Gesichtspunkt prinzipieller menschlicher Gleichheit neuen, nachrevolutionären Ordnung der Gesellschaft auch zu einer neuen Idee der Stadtplanung und der Architektur finden. Die Kurorte als »Reservate des Heils« für die das Alltägliche und Banale hinter sich lassende, ohne ständische Schranken miteinander kommunizierende Gemeinschaft der »edlen Gleichen« (und Wohlhabenden) erfüllten vor dem Hintergrund dieser neuen Programmatik schon mit ihrer abgegrenzten Funktion gute Voraussetzungen, Kristallisationspunkte einer solchen Entwicklung zu werden. Indem der Wiesbadener Kurbezirk diesem neuen gesellschaftlichen Leitbild in damals hochmoderner Stadtgestalt in vollkommener Weise entsprach, bildete er die Grundlage für den Aufstieg der nassauischen Regierungs- und Residenzstadt. Gegenüber 1817 hatte sich 1843 die Einwohnerschaft fast verdreifacht.

Vor allem im Süden der Stadt waren neue Straßenzüge für den gehobenen Wohnbedarf hinzugekommen, insbesondere die Rheinstraße. Parallel dazu hatte sich das später Bergkirchenviertel genannte Stadtquartier stark ausgeweitet. Mit der tiefstapelnd »Landhaus« genannten Villa des Freiherrn Carl Ludwig Friedrich von Rettberg an der Frankfurter Straße setzte um 1840 die Villenbebauung an den Taunushängen östlich und nördlich der Innenstadt ein.

Der Stadtkern erfuhr eine nachhaltige Aufwertung durch den Neubau (1837–42) des herzoglichen ➞ Stadtschlosses nach Plänen des klassizistischen Darmstädter Hofbaudirektors Georg Moller. Der Bauherr Herzog Wilhelm zu Nassau regierte sehr autokratisch, legte aber Wert darauf, seine Residenz »in der Mitte seines Volkes« zu errichten und so die Volksnähe der nassauischen Monarchie zu unterstreichen. Diese Entscheidung hatte nachhaltige stadtentwicklungspolitische Folgen, denn durch sie blieb die Stadtmitte ein politisches Zentrum, später auch als Ort zeitweiser Hofhaltung der Hohenzollernkaiser während ihrer regelmäßigen Aufenthalte in Wiesbaden, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg als Sitz des Landtages des neu gebildeten Bundeslandes Hessen. Mit dem Schlossbau verbunden war die Beseitigung des »Neuen Schlosses« von 1596, bis dahin Sitz des Nassauischen Staatsministeriums und der oberen Verwaltungsdienststellen des Regierungspräsidenten. Für diese politische und administrative Spitze des Herzogtums und auch für die Nassauische Ständeversammlung, den Landtag, wurde deshalb zeitgleich mit dem neuen Stadtschloss bis 1843 ein neues, palaisartiges Gebäude an der Ecke Luisenstraße/Bahnhofstraße gebaut, das Ministerialgebäude (heute Hessisches Justizministerium).

Besonders auffällige Veränderungen im Erscheinungsbild der Stadt zwischen 1840 und 1870 brachten die neuen Sakralbauten. Die 1850 abgebrannte evangelische Mauritiuskirche wurde 1852–62 sehr repräsentativ durch die Marktkirche am Schlossplatz ersetzt. Am Luisenplatz entstand zwischen 1845 und 1866 in zwei Anläufen die Kirche St. Bonifatius als neue katholische Hauptkirche. Als Mausoleum für seine im Kindbett verstorbene erste Ehefrau Elisabeth Herzogin zu Nassau, eine russische Prinzessin, und für die Gottesdienste der vielen russischen Besucher und Kurgäste ließ Herzog Adolph zu Nassau 1846–55 auf dem Neroberg die Russisch-orthodoxe Kirche der heiligen Elisabeth errichten. Für die zahlreichen englischen Kurgäste entstand 1862–65 an der Frankfurter Straße die sogenannte Englische Kirche (Church of St. Augustine of Canterbury, Wiesbaden). Zu den das Stadtbild prägenden Bauwerken Wiesbadens aus dieser Epoche gehörte auch die 1863–69 erbaute neue Synagoge am Michelsberg. Sie stand in der Abfolge der baulichen Schwerpunkte entlang der Querachse der Innenstadt, von der Marktkirche und dem Schloss über den Uhrturm bis zur Synagoge, zuoberst, bis sie am 09. November 1938 niedergebrannt und vollständig zerstört wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg planierte die städtische Straßenplanung durch die neue Führung und Verbreiterung der Coulinstraße diesen sakralen Standort.

1800–66, in der Zeit des Herzogtums Nassau, hatte sich die Einwohnerzahl mit ca. 30.000 Einwohnern mehr als verzehnfacht. Das Stadtleben prägten außerdem jährlich fast ebenso viele Kurgäste, davon etwa die Hälfte aus dem Ausland. Ein neues, modernes Stadtbild war entstanden, mit neuen Bauwerken der Monarchie und der administrativen Staatsführung, neuen Kirchen und einer repräsentativen Synagoge, neuen Kureinrichtungen und einem für ein modernes Kurleben eigens konzipierten Kurbezirk. Die stadtprägende Planungsfigur des Historischen Fünfecks konnte deshalb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das weitere Wachstum der Stadtbevölkerung nicht mehr aufnehmen. Überschreitungen der Planungsgrenzen nach allen Richtungen hatten schon in der herzoglichen Zeit begonnen. Unter anderem war schon vor der preußischen Annexion Nassaus die »Maria-Hilf-Siedlung« an der Platter Straße als Stadtviertel für Arbeiterfamilien begonnen worden.

Stadtentwicklung in der preußisch-deutschen Monarchie 1866 bis 1918

Nach 1866 war Wiesbaden nicht mehr Residenz und Regierungssitz, sondern übte Hauptstadtfunktion nur noch für einen der über 40 preußischen Regierungsbezirke aus. Der Regierungsbezirk Wiesbaden umfasste zusätzlich zum ehemaligen Herzogtum Nassau auch Frankfurt und Hessen-Homburg. Andererseits war Preußen der mit Abstand größte und wichtigste und ein besonders dynamisch sich entwickelnder Teilstaat und die führende Macht im neuen Deutschen Reich, und seine großbürgerliche und adelige Führungsschicht mit der kaiserlichen Familie an der Spitze, deren regelmäßige Besuche in Wiesbaden zu den Höhepunkten jedes Jahresablaufs gehörten, erkor Wiesbaden rasch zu ihrem beliebtesten Kurort und zu einem bevorzugten Ruhestandsrefugium. So brachte die neue preußische Herrschaft für Wiesbaden nicht nur keinen Entwicklungsstillstand, sondern – im Gegenteil – rasante Wachstumsschübe als mondänes Kurbad und als » Preußische Pensionopolis«. 1905 überschritt die Einwohnerzahl die magische Zahl von 100.000.

Im Vergleich der Kartierungen des Wiesbadener Baubestandes für die Jahre 1868, 1879, 1900 und 1910 lässt sich die Umsetzung der Wachstumszahlen in der Stadtentwicklung während der wilhelminischen Ära recht gut erkennen. Mit ihr einher ging ein verhältnismäßig klares schichtenspezifisches Erscheinungsbild der einzelnen Neubaugebiete. Die im Anschluss an das Historische Fünfeck nach Süden und Westen sich erstreckenden, mit rechtwinkligen Straßenrastern gegliederten, in geschlossener Bauweise mit gehobenem Wohnungsstandard bebauten Straßenzüge zielten vor allem auf den zuströmenden gut situierten Rentiers-Mittelstand, für den in Wiesbaden ganze Stadtviertel errichtet wurden (z. B. das Rheingauviertel). Verdichtungsprozesse im Bergkirchengebiet, dessen Fortentwicklung in nordwestlicher Richtung über die Röderstraße hinweg und die Anlage der »Maria-Hilf-Siedlung« stellten ein Wohnangebot an die »kleinen« Leute und die einkommensmäßig eher schwachen Schichten dar, an Arbeiterfamilien, Handwerker und Bedienstete des Kurbetriebs. Die Ausdehnung der Villengebiete nach Norden und Osten, aber auch entlang der Allee nach Biebrich erfüllte den Bedarf besonders wohlhabender Neubürger der Stadt. 1908 zählte die Statistik in Wiesbaden unter anderem 250 Goldmarkmillionäre.

Da um die Wende zum 20. Jahrhundert etwa 70 % der Wiesbadener Bevölkerung Arbeiter und Kleinbürger waren und nur etwa 20 % zum Mittelstand und zu den Wohlhabenden gehörten, gab es auch in den Straßenzügen des Westends und der südlichen Innenstadt soziale Mischungen in den Baublöcken; und Geringverdiener bewohnten vielfach Hof- und Hintergebäude, in denen sich auch kleingewerbliche Betriebe niederließen. Ein schichtenspezifisches Erscheinungsbild der Wiesbadener Wohngebiete war aber (und ist) dessen ungeachtet ein Kennzeichen Wiesbadener Stadtentwicklung.

Die Einsicht, dass es notwendig sei, die rasterförmige Stadterweiterung nach Süden und Westen durch die Zäsur einer breiten Ringstraße einzufassen und zu gliedern und damit zugleich die Bewältigung des Verkehrs zu erleichtern, verfolgte die Stadtplanung schon seit 1871. Aber erst im Bebauungsplan von 1888 wurde der erste Stadtring (Erster Ring) von der Biebricher Allee bis zur Emser Straße fixiert, und der Stadtplan von 1900 dokumentiert die Realisierung. Schon vor 1900 überschritt der Städtebau mit den ersten Straßenzügen des äußeren Westends (»Feldherrenviertel«) breitflächig auch schon diese innere Entwicklungsgrenze. Bis 1914 führte dann ein weiterer spekulativer Investitionsschub die Bebauung westlich und südwestlich der neuen Ringstraße fort.

Nicht nur mit Einwohnerzahl und Flächenwachstum entwickelte sich Wiesbaden in den Jahrzehnten um 1900 zur Großstadt. Auch das Erscheinungsbild wandelte sich in dieser Epoche, zumindest in den Hauptstraßen, und nahm einen großstädtischen Charakter an mit in der Regel viergeschossiger Bebauung im wilhelminischen Prunk des Späthistorismus. Als prägende Elemente in der inneren Stadtentwicklung waren dabei für Wiesbaden vor allem die Neubau- und Modernisierungsinvestitionen im Hotelbau an vielen Stellen der Innenstadt kennzeichnend, besonders eindrucksvoll aber im Kurbezirk um den Kochbrunnen und an der Wilhelmstraße. Herausragende Beispiele sind das Hotel Rose an der Ostseite des Kochbrunnenplatzes, ihm gegenüber das Palasthotel und das neue Hotel Nassauer Hof am Kaiser-Friedrich-Platz.

Der um die Jahrhundertwende mit der Stadterweiterungsplanung beauftragte Stadtplaner Reinhard Baumeister (1833–1917) aus Karlsruhe sicherte gezielt deren durchgrünten Charakter, der bis heute die Lebensqualität in der Großstadt wesentlich erhöht, indem er mit seinem Bebauungsplan von 1894 und dessen Fortschreibung von 1905 die Freihaltung der in die Stadt hinein verlaufenden Talzüge des Rambachs in der Verlängerung des Kurparks, des Dambachs, des Schwarzbachs (Nerotal) und des Kesselbachs vor jeglicher Bebauung im Talgrund sicherte und alle von ihm neu konzipierten Straßen mit Baumreihen und Vorgärten plante. Baumeister verfolgte auch das Ziel, in die Sichtachsen der großen, gerade geführten Straßen als städtebauliche Dominanten der Stadtentwicklung signifikante öffentliche Gebäude zu platzieren. Die Ringkirche am oberen Ende der Rheinstraße ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieses Prinzips. Der Kochbrunnen, zentraler Anlaufpunkt für Kurgäste und Tagestouristen, erhielt 1887–90 nach Plänen des Architekten Wilhelm Bogler eine neue Fassung mit Brunnentempel, Trinkhalle und daran anschließender großzügiger Kolonnade als Wandelhalle, die in den 1960er-Jahren im Zuge der »Sanierung« der Thermalquellen und vor dem Hintergrund der Entscheidung, die verbliebenen Kuranwendungen in das Aukammtal zu verlagern, mit Ausnahme des Flügels an der Saalgasse als »Modernisierungsmaßnahme« abgebrochen wurde.

Der Wachstumsschub in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforderte technische Modernisierungen und Kapazitätserweiterungen auch in fast allen öffentlichen Infrastrukturbereichen: 1864–70 Wasserleitungsnetz, 1876–79 Städtische Krankenanstalten, 1884 Kläranlage, 1886–92 Neukanalisation, 1887 Einweihung des neuen Rathauses, 1888 Baubeginn der Straßenbahn, 1892 neue, erweiterte Gasanstalt, 1894 Königliches Hoftheater und 1902 Foyer des Theaters, 1897 Land- und Amtsgericht in der Gerichtsstraße, 1898 Fertigstellung des städtischen Elektrizitätswerks und Beginn der Umstellung der seit 1847 eingeführten Straßenbeleuchtung von Gas auf elektrisches Licht, 1906 Einweihung des Hauptbahnhofs, 1907 des neuen Kurhauses, 1913 des Kaiser-Friedrich-Bads, 1913 der Landesbibliothek und 1915 des neuen Stadtmuseums.

Aus dieser Liste erwiesen sich als besondere Weichenstellungen für die innere Stadtentwicklung, die in der zeitgenössischen, kontroversen Diskussion auch so empfunden wurden, die Standortentscheidungen für das neue Rathaus, für das neun ältere Häuser abgebrochen wurden, das Königliche Hoftheater, für dessen Platzierung im Kurbezirk im Anschluss an die südliche Kolonnade sogar die Entscheidung Kaiser Wilhelms II. eingeholt wurde, des neuen Kurhauses, errichtet unter Abriss des nach wie vor populären alten Kurhauses von Zais, und des Hauptbahnhofs. Ganz besonders umstritten war der Neubau des Kurhauses. Die in der Stadt gesellschaftlich wie politisch führende großbürgerliche Schicht und ihr bedeutendster Repräsentant, Oberbürgermeister Karl Bernhard von Ibell, hielten jedoch angesichts ständig wachsender Besucher- und Kurgastzahlen und regelmäßiger Kaiseraufenthalte einen neuen, noch prächtigeren Rahmen für repräsentative Ereignisse für unverzichtbar.

Schließlich gehört zu den für die Stadtentwicklung im späten 19. Jahrhundert und den Baustil des Historismus besonders charakteristischen, bis heute erhaltenen Zeugnissen der expansivsten Stadtentwicklungsphase Wiesbadens im wilhelminischen Kaiserreich das Römertor, ein Bauwerk von 1903 zur historisierenden Verschönerung des der Verkehrsentlastung der Langgasse dienenden Durchbruchs der Coulinstraße durch die spätrömische Heidenmauer. Der Kaiser selbst zeigte sich vielfach sehr interessiert an der archäologischen Spurensuche nach der antiken Vergangenheit. Auch in Wiesbaden ließ er sich Ausgrabungen des römischen »Aquae Mattiacae« erläutern. Andererseits war der technische Fortschritt unaufhaltsam, und so zögerte die Stadt nicht, für eine fortschrittliche Verkehrslösung das tatsächliche römische Baudenkmal durch ein pseudorömisches zu ersetzen.

Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert bis 1945

Der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und die nachfolgende galoppierende Inflation zerrütteten die ökonomischen Grundlagen der das Deutsche Reich und die Monarchie tragenden Gesellschaftsschichten, die auch die tragenden Säulen der Wiesbadener Blüte vor 1914 gewesen waren. Die durch die plötzliche Perspektivlosigkeit vieler Menschen wachsende Verunsicherung, die durch Arbeitslosigkeit und Elend auch in Wiesbaden ausgelösten sozialen und politischen Konflikte, hier noch gesteigert durch die Besetzung durch französisches und britisches Militär, vor allem aber die über viele Jahre andauernde Notlage des städtischen Haushalts lähmten weitestgehend alle Initiativen für eine aktive kommunale Stadtentwicklungspolitik.

1924 gab es zwar schon wieder fast 100.000 Besucher, darunter 22.500 Kurgäste, allerdings mit wesentlich geringerer Kaufkraft als vor 1914. 1932 wurden 72.980 Erwerbspersonen gezählt, davon 19.260 Arbeitslose, aber auch 47.000 Kurtaxe zahlende Gäste, die sich eine Woche oder länger in Wiesbaden aufhielten. 1938, in der letzten Kursaison vor dem Zweiten Weltkrieg, waren es 58.000. Die Daten seit 1929 beziehen sich bereits auf ein durch Eingemeindungen wesentlich erweitertes Stadtgebiet, durch die sich die Zahl der Einwohner auf rund 152.000 erhöhte.

Der Bebauungsplan von 1930 für die Kernstadt enthielt nur unwesentliche Arrondierungen der Bauflächen. Stadterweiterungen für zuwandernde wohlhabende Rentiers wurden nicht mehr benötigt. Wohnungsneubaubedarf bestand in der Weimarer Zeit vor allem für erschwinglichen Mietwohnungsbau für Arbeiterfamilien und andere sozial schwache Schichten wie auch für den unteren Mittelstand, der preiswerte Eigenheime suchte. Für letzteren entstanden z. B. die Siedlung Eigene Scholle an der Lahnstraße und die Siedlung Eigenheim an der Idsteiner Straße, schon auf Sonnenberger Gebiet. Für die erstgenannte Zielgruppe wurden Wohnblöcke des »sozialen Wohnungsbaus« vor allem am Rande des äußeren Westends, insbesondere an der Klarenthaler Straße und dem Elsässer Platz, errichtet. In Biebrich und Dotzheim stellte die Stadt zudem Baugrund zur Verfügung, auf dem im Erbbaurecht, d. h. ohne sofort fällige Erwerbskosten für die Grundstücke, einige Wohnsiedlungen im Wege der Selbsthilfe Arbeitsloser entstehen konnten.

Verglichen mit den letzten Jahrzehnten vor 1914 war die Bauentwicklung Wiesbadens trotz solcher einzelner Impulse jedoch im Ganzen von Stagnation gekennzeichnet. Die spektakulärsten neuen Schritte in der Stadtentwicklung Wiesbadens gingen auf private Stiftungen zurück und verschönten die Stadt. Die Verwirklichung der Reisinger-Anlage 1932 und der anschließenden Herbert-Anlage 1937 (Reisinger-und-Herbert-Anlagen) schuf einen großzügigen Grünzug zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt. Und mit der Errichtung des »Schwimm- und Sonnenbades«, des Opelbades auf dem Neroberg, entstand 1933/1934 eine weit über Wiesbaden hinaus attraktive Einrichtung, ein Hoch- und Höhepunkt der reizvollen Wiesbadener Stadtlandschaft.

Schon mit den Reichstagswahlen von 1930 war die NSDAP in Wiesbaden die stärkste Partei geworden. Erst nach der Machtübernahme Hitlers im Reich am 30.01.1933 und der anschließenden Ausschaltung der demokratischen Parteien bestimmte die nationalsozialistische Programmatik die Wiesbadener Stadtpolitik. Für die Stadtentwicklung wurden spezifisch nationalsozialistische Akzente allerdings ausschließlich deutlich mit der Zerstörung aller Synagogen in der Reichspogromnacht am 09.11.1938, auch der das Stadtbild prägenden Hauptsynagoge auf dem Michelsberg. Deren Zerstörung im Beisein einer großen, johlenden Volksmenge beseitigte nicht nur ein bedeutendes architektonisches Kunstwerk, ein Baudenkmal und Wahrzeichen der Wiesbadener Innenstadt, sondern signalisierte zugleich die Brutalität der politischen Entwicklung in Deutschland, die konsequent in den Zweiten Weltkrieg führte.

Das Verbrechen war ein Fanal auf dem Wege, der zur Teilzerstörung der Stadt in der Bombennacht vom 02. auf den 03.02.1945 und in die Konsequenzen der totalen Niederlage und der Kapitulation Deutschlands am 08.05.1945 führte, die zugleich ein Ereignis des Untergangs und der Befreiung war sowie neue Perspektiven eröffnete. Von flächenhaften Zerstörungen war vor allem das Quellen- und Kurviertel betroffen. Völlig zerstört wurden unter anderem das Paulinenschlösschen und das Hotel Vier Jahreszeiten. Schwere Schäden erlitten Rathaus, Kurhaus, Staatstheater, die Kolonnaden am Bowling Green, Stadtschloss, Marktkirche und Schloss Biebrich.

Am 28.03.1945 rückten amerikanische Truppen in die Stadt ein. Unter Beschlagnahme einer ganzen Reihe noch intakter Gebäude, vor allem ehemaliger Hotels, richteten sie hier nach der Abgrenzung ihrer deutschen Besatzungszone ihr Hauptquartier der Luftstreitkräfte ein.

Der Wiederaufbau nach 1945 - die hessische Landeshauptstadt

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Stadtentwicklung Wiesbadens ihre besondere Prägung durch die Proklamation der Stadt als hessische Landeshauptstadt am 12.10.1945. Damit gewann die Stadt erstmals wieder eine zukunftsträchtige Perspektive. Die Platzierung des Hessischen Landtages, d. h. der Repräsentanten des Volkes als des Souveräns im demokratischen Staat, im ehemals herzoglichen, danach königlichen Stadtschloss, verlieh der Wiesbadener Stadtmitte eine neue Funktion und einen neuen gewichtigen Stellenwert als Zentrum demokratisch-politischen Geschehens. Der Aufbau der Landesregierung in Wiesbaden, der Staatskanzlei, mehrerer Ministerien und einer Reihe weiterer Landesdienststellen, aber auch der damit einhergehende, zwangsläufige Aufbau einer Reihe auf die Zusammenarbeit mit den politischen Entscheidungsgremien des Landes und deren nachgeordneten Behörden ausgerichteter zivilgesellschaftlicher Organisationen, beispielsweise von Gewerkschaften und kommunalen Spitzenverbänden, gewann rasch prägenden Charakter für die Stadtstruktur.

Nach 1949 kamen Standortentscheidungen im Rahmen des Aufbaus der Bundesrepublik hinzu: 1953 nahm hier das Bundeskriminalamt seine Tätigkeit auf, 1955 das Statistische Bundesamt und 1956 die Wehrbereichsverwaltung IV. Den öffentlichen Verwaltungen folgten private Unternehmen der verschiedensten Dienstleistungsbereiche, Banken, Versicherungen, Verlage, Spitzenverbände. So entwickelte sich Wiesbaden zu einer Stadt der Verwaltungen, mit einem Schwerpunkt im öffentlichen Dienst, mehr noch als sie es je als nassauische Residenz oder preußische Großstadt gewesen war.

Dieser Strukturwandel verstärkte sich durch den Niedergang des Kurwesens. Trotz aller städtischen Bemühungen konnte es den Einbruch infolge der Kriegsereignisse und der Hotelbeschlagnahmen durch die amerikanische Besatzungsmacht in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht wieder ausgleichen. Auch die städtische Entscheidung, den Kurbetrieb in das Aukammtal zu verlagern, wo verschiedene Kurkliniken und ein neues Thermalbad errichtet und auch die Deutsche Klinik für Diagnostik angesiedelt wurden, und die Wiesbadener Kur so auf die medizinische, auch operative Behandlung von Krankheiten des rheumatologischen Formenkreises zu konzentrieren, verhinderte nicht, dass die Kurgastzahlen ab den 1970er-Jahren jahresdurchschnittlich 10.000 nicht mehr überschritten. Allerdings entwickelte sich ein vom Kurbetrieb unabhängiges Kongresswesen, für das in mehreren Schritten am Rand der Innenstadt, auf dem Gelände des früheren Taunus- und des Rheinbahnhofs, die Rhein-Main-Hallen als großes Ausstellungs- und Kongresszentrum gebaut wurden. Damit erlangte Wiesbaden auch als Kongressstadt überregionale Bedeutung.

Schließlich konnte auch die auf die Vororte am Rhein konzentrierte Wiesbadener Industrie ihre großen Kriegsschäden in wenigen Jahren durch neue, moderne Produktionsanlagen mehr als ausgleichen. Wiesbadener Unternehmen entwickelten sich zu Marktführern in der Zement-, der Folien- und der Sektproduktion, und auch im Metallbereich entstanden Betriebe mit spezialisierter, global konkurrenzfähiger Produktpalette. Der Anteil des produktiven, industriellen Sektors hat allerdings in Wiesbaden den Dienstleistungssektor nie überwogen.

Die Wiesbadener Stadtplanung entwickelte neue Sondergebiete für öffentliche und private Verwaltungen vor allem entlang den Ausfallstraßen aus der Innenstadt, unter anderem an der Friedrich-Ebert-Anlage, am Gustav-Stresemann-Ring, an der Berliner Straße und am Moltkering, auf dem »Behördenberg« am Konrad-Adenauer-Ring und entlang der Mainzer Straße. Großflächige Gewerbegebiete entstanden östlich der Mainzer Straße (Hasengartenstr. u. a.), zwischen Biebrich und Schierstein (Äppelallee – Hagenauer Straße), in Erbenheim (Kreuzberger Ring) und zwischen Kastel und Kostheim (Petersweg).

In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bewältigung der Wohnungsprobleme die Hauptaufgabe der Wiesbadener Stadtentwicklung. 1945 war Wiesbadens Einwohnerschaft, vor allem als Folge der Zerstörungen in der Stadt, auf rund 137.000 zurückgegangen. Bald nach dem Ende der Kampfhandlungen strömten etwa 20.000 Menschen wieder in die Stadt zurück, die aus Angst vor dem Bombenkrieg in die Dörfer der Umgebung geflohen waren. Da Wiesbaden »nur« zu 30 % teilzerstört war, wurde die Stadt darüber hinaus bevorzugtes Ziel von Heimkehrern von den Fronten und aus den Gefangenenlagern sowie von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus den früheren deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland. Schon zu Beginn der 1950er-Jahre betrug die Einwohnerzahl um eine viertel Million, die sich im nicht zerstörten Teil des Wohnungsbestandes und in mehr oder weniger behelfsmäßigen Quartieren in großer Enge drängten. Daraus ergab sich als zentrale Aufgabe, für rund 120.000 Menschen Wohnungen zu bauen sowie alle für Bildung, Versorgung und soziale Betreuung notwendigen Folgeeinrichtungen.

So entstanden rund 40.000 neue Wohnungen bis 1975, überwiegend in den verschiedenen Formen des öffentlich geförderten Mietwohnungsbaus, durch Abrundung der Altbaugebiete, auch am Rande der Innenstadt, vor allem aber durch neue Wohngebiete in den Stadtteilen Biebrich, Schierstein, Dotzheim, Bierstadt, Erbenheim, Kastel und Kostheim. Auf städtebauliche Beratung durch den renommierten Planer Ernst May gingen unter anderem die in den 1960er-Jahren begonnenen Großsiedlungen Parkfeld, Klarenthal und Schelmengraben zurück. Die letzte städtebauliche Siedlungsentwicklung vergleichbarer Größenordnung mit überwiegend mehrgeschossigem Mietwohnungsbau war die Siedlung Sauerland, mit deren Bau 1995 begonnen wurde. Zusätzlich dehnten sich am Rande praktisch aller Vororte Einfamilienhausgebiete aus.

Eine besondere Aufgabenstellung für die Stadtentwicklung ergab sich aus der Entscheidung der amerikanischen Besatzungsmacht, in Wiesbaden das europäische Oberkommando der US-Air Force zu stationieren. Dafür und für weitere US-Militärdienststellen nahm das US-Militär neben verschiedenen Einzelgebäuden in der Stadt die Kasernenkomplexe an der Schiersteiner Straße (»Camp Lindsey«) und in Dotzheim-Freudenberg (»Camp Pieri«) und den Militärflugplatz in Erbenheim in Beschlag. Für durchgängig etwa 20.000 US-Amerikaner und ihre Familien entwickelte die Stadtplanung Neubausiedlungen zwischen Sonnenberg und Bierstadt (»Crestview« und »Aukamm«) und an der Berliner Straße (»Hainerberg«). Ein Rückgang dieses Bevölkerungsanteils ergab sich aus der Verlagerung des Luftwaffenhauptquartiers nach Ramstein/Pfalz (1973). Wiesbaden blieb aber mit dem Militärflugplatz Erbenheim ein Schwerpunkt der US-Army in Deutschland selbst noch nach 1989, als nach der deutschen Wiedervereinigung die amerikanische Militärstärke in der Bundesrepublik reduziert und im Zuge dieser Entwicklung Camp Lindsey und Camp Pieri 1993 geräumt und zu neuen deutschen Stadtvierteln umgestaltet wurden. 2008 beschloss die US-Regierung die Verlagerung des US-Oberkommandos in Europa von Heidelberg nach Wiesbaden. Dafür wurde ab 2009 das Militärflugplatzgelände in Erbenheim weiter ausgebaut und nach Süden um eine zusätzliche Wohnsiedlung erweitert. Mit dem Umzug der ca. 4.000 uniformierten und zivilen Angehörigen des US-Militärs und ihrer Familien vom Neckar nach Wiesbaden wird die Zahl der US-Bürger in dieser Stadt wieder dauerhaft auf ca. 18.000 steigen.

Der Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hatte sich in der Innenstadt im Wesentlichen nach dem historischen Stadtgrundriss gerichtet, und auch im großflächig zerstörten Kurviertel waren bei der Verwirklichung der Wiederaufbauplanung die traditionellen städtebaulichen Maßstäbe in etwa gewahrt geblieben. Im Übrigen orientierten sich die Neubauten in den Altbauvierteln in den ersten Jahren nach dem Kriegsende in der Regel an den historischen Grundstückszuschnitten und Höhenentwicklungen. Auch wurden viele der »nur« schwer beschädigten 2.500 Wohngebäude unter Erhaltung der Außenfassaden wiederhergestellt. Die wichtigsten repräsentativen, öffentlichen Gebäude wurden wieder aufgebaut, bzw. – mit Ausnahme des Rathauses – so repariert, dass das historische Erscheinungsbild gewahrt blieb. Kurhaus und Staatstheater wurden sogar in mehreren Schritten vollständig restauriert. So blieb Wiesbaden trotz der Kriegszerstörungen insgesamt ein städtebauliches »Gesamtkunstwerk« des 19. Jahrhunderts mit bedeutenden Zeugnissen klassizistischer Stadtplanung und ein einzigartiges städtebauliches Dokument des Historismus.

Die größte Bedrohung dieses städtebaulichen Erbes ging zu Beginn der 1960er-Jahre von der städtischen Planung selbst aus. Das 1963 veröffentlichte Stadtentwicklungskonzept des Stadtplaners Ernst May sah die Beseitigung der gesamten historischen Bausubstanz des Villengebietes am Bierstadter Hang (»City Ost«), des Bergkirchenviertels, der Südstadt zwischen Rheinstraße und Kaiser-Friedrich-Ring und des Altstadt-»Schiffchens« zwischen Graben- und Wagemannstraße vor. Überall sollten stattdessen einheitliche Neubaublöcke und Hochhäuser errichtet werden, mit Ausnahme des Schiffchens, an dessen Stelle May eine groß dimensionierte mehrgeschossige Parkpalette plante. Mays Stadtentwicklungspläne ergänzte eine gleichzeitig entwickelte Gesamtverkehrsplanung des Verkehrsplaners Kurt Leibbrand mit einem autogerechten Ringstraßen- und Verkehrsachsensystem durch die Stadt, mit mehreren Hochstraßen, von denen eine sogar über den hinteren Kurpark führen sollte. Den Planungen lag neben einer emotionalen Abneigung gegen das Bauerbe des 19. Jahrhunderts die damals herrschende Städtebautheorie der anzustrebenden Funktionstrennung zu Grunde, wonach die Innenstädte möglichst ausschließlich als »Kerngebiet« für geschäftliche und gewerbliche Nutzungen umstrukturiert und für das Wohnen neue Trabantenstädte im Außenbereich entwickelt werden sollten. Dementsprechend schlug May auch verschiedene Großsiedlungen für sozialen Mietwohnungsbau (unter anderem Klarenthal, Parkfeld und Schelmengraben), aber auch neue, große Einfamilienhausgebiete (z. B. Heidestock und Hirtenstraße in Sonnenberg) vor.

Während die neue Verkehrsplanung in den 1970er-Jahren mit ersten Verbreiterungen der Hauptstraßen, darunter dem sechsbahnigen Ausbau der Schwalbacher Straße und mit der 2001 wieder abgebrochenen Hochbrücke am Michelsberg Gestalt annahm, führten die städtischen Umnutzungspläne in der als erstes der innerstädtischen städtebaulichen May-Projekte 1965 beschlossenen »City Ost« zu massiver Bodenspekulation mit Mietervertreibungen und illegalen Hausabbrüchen. Doch eine von den Jungsozialisten getragene Bürgerinitiative unter der Führung des späteren Stadtentwicklungsdezernenten Jörg Jordan und des nachmaligen Oberbürgermeisters Achim Exner mobilisierte die Stadtöffentlichkeit gegen die Stadtzerstörung. Ihnen gelang es, in der SPD, der damaligen Mehrheitspartei im Stadtparlament, ab 1971 einen Paradigmenwechsel einzuleiten und mit dem Programm »Für ein menschliches Wiesbaden« ein Gegenkonzept gegen die May/Leibbrand-Pläne kommunalpolitisch durchzusetzen.

Der theoretische Ansatz und das städtebauliche Hauptziel dieser neuen Stadtpolitik sahen die Erhaltung der Großstadt als eines lebendigen sozialen Organismus und damit die Erhaltung von gemischten Strukturen des Wohnens und Arbeitens vor. Erhaltung der Mischstrukturen in der Innenstadt bedeutete dabei, angesichts der ökonomischen Kräfteverhältnisse in der Konkurrenz um die attraktivsten Innenstadtbereiche vor allem die Wohnfunktion planungsrechtlich zu sichern und durch soziale Infrastruktur gezielt zu unterstützen. Denkmalschutz und Stadtbildpflege erhielten dabei einen hohen Stellenwert. 1973–79 konnten unter dem Dezernenten Jordan wesentliche Teile dieses Programms verwirklicht werden. Unter anderem wurden die Fußgängerzone verwirklicht und der Schlossplatz als autofreier Platzbereich neu gestaltet, in der »City Ost« die Villen weitgehend unter Denkmalschutz gestellt, im Bergkirchenviertel eine punktuelle Modernisierung ohne Mietervertreibung eingeleitet, in der Südstadt die Adolfsallee nicht, wie geplant, zum Autobahnzubringer ausgebaut, sondern zum Park umgestaltet und das »Schiffchen« hausweise an erhaltungswillige Einzelbewerber vergeben.

Seit diesem kommunalpolitischen Umbruch folgten bis in die jüngste Vergangenheit spektakuläre Beispiele der Idee, mit Erhaltung und Pflege der Zeugnisse der reizvollen Wiesbadener städtebaulichen Vergangenheit für die Stadt eine attraktive Zukunft zu sichern: Der Umzug der Staatskanzlei an den Kranzplatz in das ehemalige Hotel Rose im Jahre 2004 bewirkte für das in der Stadttradition bedeutsamste, seit dem Niedergang der Kur vom Verfall bedrohte historische Stadtquartier um den Kochbrunnen eine beträchtliche Aufwertung. Gleiches gilt für das für den Hessischen Landtag errichtete neue Plenargebäude im rückwärtigen Bereich des Stadtschlosses und die damit verbundene Verwirklichung eines neuen Platzes in der Altstadt an der Grabenstraße in den Jahren 2005–08. Im Hinblick auf die von May entwickelten städtischen Pläne, die Altstadtbebauung zwischen Graben- und Wagemannstraße durch eine Parkpalette zu ersetzen, hatte die Staatsbauverwaltung 1960 auf dem rückwärtigen Schlossgelände die historischen Reithalle des Schlosses abgebrochen und stattdessen für den Landtag ein Plenarsaalgebäude in zeitgenössischer Behälterarchitektur errichtet. Seit 2000 entstand ein neues Parlamentsgebäude, das die Maßstäbe und historischen Gebäudegrenzen der alten Reithalle und damit der Moller’schen Schlosskonzeption exakt einhält. Jetzt erstreckt sich zwischen dem neuen Gebäude und der historischen Häuserzeile ein neuer, attraktiver Altstadtplatz. Die 1974 getroffene Grundsatzentscheidung, das Altstadt-Schiffchen zu erhalten, fand so 30 Jahre später ihre angemessene städtebauliche Bestätigung und das Stadtentwicklungsprogramm »Für ein menschliches Wiesbaden« für diesen ältesten Bereich der Wiesbadener Innenstadt seine Vollendung.

Schon 1978 hatte die gegen die Planungen Mays durchgesetzte Stadtentwicklungskonzeption bundesweite Anerkennung erfahren, und Wiesbaden wurde im Bundeswettbewerb »Stadtgestalt und Denkmalschutz im Städtebau« als Bundessieger unter den Großstädten mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Der im Wiesbadener Stadtbild noch weitestgehend nachvollziehbare Stadtentwicklungsschub im 19. Jahrhundert und die vielfältig erhaltene Architektur des Klassizismus und des Historismus bildeten schließlich 2005 die erste von zwei Begründungen für die Bewerbung der Stadt um Aufnahme in das UNESCO Weltkulturerbe. 2016 wurde die Bewerbung zurückgezogen, und Wiesbaden schied auch aus dem internationalen Bewerberfeld der Kurstädte des 19. Jahrhunderts aus. Dessen ungeachtet herrscht weitgehend stadtpolitische Einigkeit, dass die Bewahrung des historisch gewachsenen Stadtbildes auch eine wichtige Grundlage künftiger Stadtentwicklungsentscheidungen bleiben muss.

Literatur

Jordan, Jörg: Im Schatten Napoleons. Staatsaufbau in Nassau und Stadtentwicklung in Wiesbaden, Regensburg 2014 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden 13).