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Volksbildungsverein Wiesbaden

Artikel

Der im März 1872 gegründete Wiesbadener Volksbildungsverein, ein Zweigverein der im Vorjahr unter maßgeblicher Mitwirkung des Biebricher Fabrikanten Friedrich (Fritz) Kalle in Berlin ins Leben gerufenen Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, stand ganz im Bann des nationalistisch-obrigkeitsstaatlichen Volksbildungsgedankens nach der Reichsgründung von 1871. In seinem Jahresbericht 1896/97 postulierte er als vorrangige Aufgabe, »die Erwerbsfähigkeit der wenig Bemittelten durch geeignete Belehrung zu steigern und die geistige und sittliche Hebung des Volkes zu fördern«.

Seit 1901 bezweckte der Verein satzungsgemäß »die Förderung der Bildung der breiten Schichten der Bevölkerung, um diese in höherem Grade zu befähigen, ihre Aufgaben in Staat, Gemeinde und Gesellschaft zu erfüllen«. Hierzu wurden Volksbüchereien, eine Volkslesehalle und Kinderlesehallen eingerichtet, Vorträge sowie Volksvorlesungen organisiert und Volksunterhaltungsabende veranstaltet.

Bereits 1873 hatte der Verein eine Fortbildungsschule für Mädchen eingerichtet, die er bis zur Eröffnung einer kaufmännischen Fortbildungsschule für beide Geschlechter durch die Stadt im Jahr 1901 unterhielt. Es folgten 1887 eine Flick- und Nähschule und ab 1890 für einige Jahre auch eine Kochschule. Seit 1900 gab der Volksbildungsverein die Wiesbadener Volksbücher heraus.

Neben die vielfältigen Bildungsangebote des Volksbildungsvereins traten vor dem Ersten Weltkrieg noch studentische Volksunterrichtskurse. Zunächst wurde dieser Unterricht von Studentinnen und Studenten während ihrer Ferien erteilt. Sie fühlten sich verpflichtet, »der Gemeinschaft schon jetzt auf ihre Weise zu nützen und den aufstrebenden Volksschichten zu helfen«, wie es in der Ankündigung zum zweiten Lehrgang im Herbst 1910 hieß. Ziel war die »Erneuerung, Erweiterung, Ergänzung und Vertiefung der elementaren Schulkenntnisse unter den handarbeitenden Volksschichten«. Diese studentische Abendschule wurde im Oktober 1922 als Abteilung in die Volkshochschule Wiesbaden eingegliedert.

Zwar hat der Wiesbadener Volksbildungsverein stets seine politische Neutralität betont, die Literatur und die Zeitschriften, die in den von ihm betriebenen Volksbibliotheken und Volkslesehallen zur Verfügung gestellt wurden, blendeten allerdings Werke und Periodika der Arbeiterbewegung aus. Ein ähnliches Bild ergibt eine Untersuchung der Wiesbadener Volksbücher. Zwar gab es durchaus einzelne Werke demokratisch gesinnter Autoren, darunter z. B. Heinrich Heine, die übergroße Mehrzahl der Titel stand aber für ein deutsch-nationales Programm, etwa die Bücher von Prof. Ernst Moritz Arndt und Prof. Wilhelm Heinrich von Riehl. Kennzeichnend für die politische Ausrichtung des Vereins waren die acht Winterveranstaltungen »Von deutscher Art und Seele« 1932/33, ebenso jene, die zum 60-jährigen Bestehen am 09.10.1932 im Kurhaus stattfand. Diese am besten besuchte Veranstaltung der Vereinsgeschichte musste sogar wegen übergroßer Nachfrage wiederholt werden.

Von den NS-Gleichschaltungen des Jahres 1933 war auch der Volksbildungsverein betroffen. Seine Leihbüchereien wurden im Spätsommer 1934 geschlossen, ihr Bestand ging an die Stadt Wiesbaden über. Lediglich die Volkslesehalle am Boseplatz blieb noch bis zur Auflösung des Vereins im Februar 1936 erhalten.

Literatur

Brunn-Steiner, Ursula: Der Volksbildungsverein Wiesbaden. Bibliothekarische Bildungsarbeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Wiesbaden 1997 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden 6).