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Wilhelminisches Wiesbaden

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Die wilhelminische Zeit gilt als glanzvoller Höhepunkt der Wiesbadener Stadtgeschichte. Streng gefasst werden damit die Regierungsjahre König Wilhelms II. von Preußen bezeichnet, der 1888–1918 als deutscher Kaiser an der Spitze des Deutschen Reiches stand. Für die städtische Entwicklung entscheidender war jedoch bereits das Jahr 1866, als Nassau von Preußen annektiert wurde und Wiesbaden seine Funktion als Landeshauptstadt verlor. Als historischer Auftakt sind daher die Jahre unter Kaiser Wilhelm I. einzubeziehen.

Wie in der Römerzeit stand nun wieder das Kur- und Badewesen beherrschend im Vordergrund. Das preußische Regierungspräsidium konnte die verloren gegangenen Regierungsbehörden eines souveränen Staates nur unzureichend aufwiegen. Dafür erhöhte die Öffnung nach Preußen den Zustrom von Fremden in ungeahntem Maße. 1890 kamen mehr als 100.000 und im Spitzenjahr 1907 über 180.000 Gäste in die Stadt. Parallel dazu stieg die Zahl derer, die sich in Wiesbaden dauerhaft niederließen. Die Einwohnerzahlen stiegen von 26.000 im Jahr 1866 auf 60.000 im Jahr 1888 und 100.000 im Jahr 1905, bis sie 1910 mit 109.000 Einwohnern ihren bis zum Ende des Kaiserreichs höchsten Stand erreichten.

Großen Einfluss auf das Wachstum hatten neben den günstigen staatlichen Rahmenbedingungen auch die kommunalpolitischen Weichenstellungen. Mit der Übernahme des gesamten Kurhauskomplexes in eigene Regie leiteten die städtischen Gremien gemeinsam mit dem Kur- und Verkehrsverein e.V. eine Werbekampagne ein, die ganz auf die natürlichen Vorzüge der Stadt abstellte. Neben der Förderung des innerstädtischen Verkehrsbetriebes stand das erfolgreiche Bemühen um günstige Eisenbahnanbindungen und einen repräsentativen Bahnhof. Eng mit dem Leitbild gesunden Lebens hingen die 1870 eingerichtete zentrale Wasserversorgung, die seit 1886 gebaute Kanalisation, der 1884 eröffnete Schlachthof und die 1905 in Betrieb genommene Müllverbrennungsanlage zusammen.

Bereits der 1871 beschlossene Stadterweiterungsplan des Stadtbaumeisters Alexander Fach legte die grundlegende Richtung fest: die Ringstraße und ein streng rechtwinkliges Straßennetz mit geschlossener Randbebauung und die Tiefe des Grundstücks erschließender Blockbildung im Süden und Westen des Historischen Fünfecks sowie eine durchgrünte lockere Landhausbebauung im Osten. Das gesamte 19. Jahrhundert hat sich historisierender Baustile bedient. Erst um die Jahrhundertwende brach sich mit dem Jugendstil ein neuer architektonischer Gestaltungswille Bahn.

Da industrielle Unternehmen bewusst ferngehalten wurden, gab es im Grunde nur zwei Gruppen von Einwohnern: solche, die von ihrem andernorts erworbenen Einkommen lebten und solche, die ihnen auf unterschiedlichste Weise zu Diensten waren, wobei die zweite Gruppe neben den Ortsansässigen zugleich die Kurgäste zu versorgen hatte. In den Villengebieten dominierte eindeutig die gesellschaftliche Oberschicht. Auch in der sich in den Gebieten zwischen Bahnhofstraße, Rheinstraße und Ring erstreckenden südlichen Innenstadt lebten Bewohner gehobener Gesellschaftsschichten. Vom Komfort und Sozialprestige her boten die dort gebauten Mietwohnungen mit ihren sechs, acht oder zehn Zimmern eine echte Alternative zur frei stehenden Villa. Dieser Stadtbezirk wurde am ehesten dem Ideal der sozialen Mischung gerecht. Im Souterrain, im Dachgeschoss, im Hinterhaus und im Seitengebäude war hier immer noch Platz für den Tagelöhner, den Bahnwärter, den Kellner, den Kutscher, die Monatsfrau und diesen und jenen Handwerker. Dagegen hat sich das Bergkirchenviertel zu einem ausgesprochenen Wohnbezirk für das Dienstpersonal entwickelt. Ähnliche Funktionen übernahm in der preußischen Zeit das Westend, wenngleich hier mit der fortschreitenden Bebauung auch zunehmend Bessersituierte einzogen.

Auch ein Vergleich der Steuerleistungen mit denen anderer Städte zeigt, dass Wiesbaden nicht nur insgesamt ein hohes Einkommens- und Vermögenssteueraufkommen besaß, sondern bezogen auf die Einwohnerzahl auch die meisten Goldmark-Millionäre aller preußischen Städte.

Das gesellschaftliche Leben erhielt vor allem mit der 1890 vollendeten Trink- und Wandelhalle auf dem Kochbrunnenplatz, dem 1894 fertiggestellten Theater und dem 1907 eröffneten Kurhaus zusätzlichen Auftrieb. Große Anziehungskraft übte auch bereits der Sport aus, wobei sich neben internationalen Tennisturnieren insbesondere Reiten, Rudern, Golf, Hockey und die 1910 in Betrieb genommene Pferderennbahn Erbenheim großer Beliebtheit erfreuten. Den Höhepunkt im jährlichen Veranstaltungsprogramm aber bildeten die Kaiserfestspiele und die damit verbundenen Kaiserbesuche.

Schon Kaiser Wilhelm I. hatte Wiesbaden nicht weniger als vierzehnmal besucht. Wilhelm II. kam erstmals 1894 offiziell nach Wiesbaden. Doch erst mit dem Beginn der Maifestspiele 1896 gestaltete sich sein Aufenthalt zu jener eigentümlichen Mischung aus rheinischem Volksfest, gesellschaftlicher Selbstdarstellung der Geburts- und Geldaristokratie und patriotischem Herrscherkult, der nicht nur bei der Oberschicht, sondern auch beim einfachen Volk großen Anklang fand. Die mondäne Kur- und Wohnstadt wurde zunehmend zum Inbegriff neudeutschen Kaiserherrlichkeit und einer innigen Verschwisterung zwischen preußischem Adel und neureichem Wirtschaftsbürgertum.

Schon in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ließ die Zugkraft der Stadt jedoch spürbar nach. Die Kurgastzahlen stagnierten, die Einwohnerzahlen wurden rückläufig. Der Krieg und seine Folgen beschleunigten den Prozess, und spätestens die Eingemeindungen der Industrievororte Biebrich und Schierstein im Jahr 1926 signalisierten, dass Wiesbaden von dem selbstverordneten Leitbild der Luxusstadt endgültig Abschied genommen hatte.

Literatur

Neese, Bernd-Michael: Der Kaiser kommt! Wilhelm I. und Wilhelm II. in Wiesbaden, Wiesbaden 2010.

Schüler, Winfried: Das wilhelminische Wiesbaden. In: Nassauische Annalen. Hrsg.: Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, 99/1989 [S. 90–110].