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Turnbewegung

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Die Ideen des Berliner Lehrers Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) legten den geistigen Grundstein der Turnbewegung, die Genehmigung durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. sorgte für die Möglichkeit der Umsetzung.

Bereits 1811 hatte Jahn die Gedanken der Turnbewegung formuliert, doch es dauerte, bis die Zeit reif war. Infolge der Karlsbader Beschlüsse wurde die Turnbewegung 1820 mit der Turnsperre belegt. Grund dafür war die national-politische Grundhaltung der Turner, die nicht nur den Slogan »frisch, fromm, fröhlich, frei« auf ihre Fahnen schrieben, sondern auch die Einheit Deutschlands propagierten. Am 06.06.1842 verkündete Friedrich Wilhelm IV. dann die neue Doktrin, dass Leibesübungen »ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung« seien und »in den Kreis der Volkserziehung aufgenommen« werden sollten.

In Wiesbaden dauerte es weitere vier Jahre, bis die ersten Turnvereine gegründet wurden. Im Mai 1846 baten 25 junge Männer aus Biebrich-Mosbach in einem Gesuch an die Herzoglich Nassauische Landesregierung in Wiesbaden um die Erlaubnis zur Gründung einer Turngemeinde. Diese Genehmigung wurde am 21.07.1846 erteilt: Die Turner-Gemeinde Biebrich war geboren. Am 22.06.1846 hatten bereits 120 eingetragene Mitglieder den »Turnverein Wiesbaden« aus der Taufe gehoben. Männerturnen und Fechten waren die ersten Disziplinen in dem späteren Großverein, der seit 1923 als »Turn- und Sportverein Eintracht Wiesbaden« das sportliche Leben der Stadt maßgeblich mitbestimmt und zumeist kurz »die Eintracht« genannt wird.

Auch in Erbenheim und Mainz-Kastel wurden noch 1846 Turnvereine gegründet, in Schierstein 1848. Dabei ist bemerkenswert, dass der Kasteler Verein sich als »Demokratische Turngemeinde« verstanden wissen wollte. Aus dem Namen lässt sich unschwer ablesen, dass die vorrangigen Ziele der Turnbewegung im 19. Jahrhundert nicht nur die Körperertüchtigung, sondern umfassende Reformen in Staat und Gesellschaft waren. Die Turner sollten durch Ausübung diverser Disziplinen zu »allseitig gebildeten, der Nation verbundenen Menschen« erzogen werden. Zu Jahns eigentlichem Kanon gehörten neben Turnen an Geräten auch Leichtathletik, Schwimmen, Fechten, Spiele und Wandern. Neu war, dass das Turnen auf öffentlichen Plätzen durchgeführt wurde.

Erster Höhepunkt der Wiesbadener Turngeschichte war die Fahnenweihe am 02.05.1847 im Beisein von Vertretern von 20 Turngemeinden. Am 06.04.1848 stattete Jahn auf seiner Rheinreise auch Wiesbaden einen Besuch ab. Das Ereignis wurde mit einem großen Festumzug und einer feierlichen Veranstaltung im Hotel Vier Jahreszeiten begangen. Bei einer Rede in Biebrich kurz zuvor hatte Jahn, mittlerweile Abgeordneter der Paulskirchenversammlung, für Aufbruchstimmung unter seinen radikal-demokratischen Anhängern gesorgt. Während der Märzrevolution 1848 griffen auch die Turner zu den Waffen – nach der Niederschlagung sahen sie sich erneut Repressionen ausgesetzt. Eine zweite Turnsperre wurde verfügt; das Vereinsleben erlahmte für rund zehn Jahre. Erst im Oktober 1859 nahm der Turnverein Wiesbaden seinen Betrieb wieder auf, im Mai 1860 gründete sich der »Turnverein Biebrich-Mosbach« neu. Im August 1861 erwachte die Kasteler Turngemeinde, diesmal ohne demokratischen Zusatz, zu neuem Leben.

Auf die körperliche Ertüchtigung reduziert, etablierte sich das Turnen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig in Staat und Gesellschaft. Es wurde auch den Frauen gestattet und als Schulfach eingeführt. 1868 gründete sich der Dachverband, die Deutsche Turnerschaft (DT). Mit der Proklamation des Kaiserreichs wurde 1871 der Wunsch der Turner nach nationaler Einheit erfüllt. Die Beweggründe zur Leibeserziehung änderten sich im Laufe der Jahrzehnte, ebenso die Rahmenbedingungen und die Vereinsnamen. In der Gesamtheit blieben die Turnvereine jedoch als Institution bestehen.

In den 1860er-Jahren begann die Zeit der »Vereinsmeierei«. So wurden beim Turnverein Biebrich eine Feuerwehr-Abteilung, ein Musik-Korps und schließlich ein Turner-Gesangverein gegründet. Vereinsinterne Streitigkeiten sorgten allerdings dafür, dass 1875 ein »Männer-Turnverein« als Konkurrenz die Bühne betrat und für fast 20 Jahre neben dem »Turn- und Feuerwehrverein« bestand, ehe sich 1894 alle Biebricher Kräfte zum heute noch existierenden Turnverein Biebrich zusammenschlossen. Der Verein untermauerte seine Bedeutung als wichtige Institution vor Ort mit dem Bau einer eigenen Turnhalle, die noch heute im Mittelpunkt des Vereinslebens steht.

Auf politischer Ebene entwickelten sich die Turner im Kaiserreich zunehmend staatstragend. Sie arrangierten sich mit Bismarcks Politik und ließen sich von ihr instrumentalisieren: Turnen wurde in Preußen zur Wehrerziehung umgedeutet. Arbeitern und Sozialdemokraten verweigerte man den Zutritt zu den bürgerlichen Vereinen. Als Folge dieser Ausgrenzung entstanden Arbeiterturnvereine, in Wiesbaden gründete sich 1896 die »Freie Turnerschaft«, in Biebrich entstand 1902 »Frisch Auf«. Ab Ende des 19. Jahrhunderts durften auch die Frauen in den Vereinen mitturnen. Den Anfang machte 1896 der TV Biebrich, und kurze Zeit darauf nahmen auch die Wiesbadener Turnvereine weibliche Mitglieder auf.

Die nächste Bruchstelle entstand durch die aus England und Amerika herüberschwappende Sportwelle. Konkurrenzwettbewerbe, Leistungsgedanke und Rekordprinzip des Sports waren den Turnern fremd. Zudem kollidierte die zunehmende Internationalisierung des Sports mit den völkischen Idealen der Turner: Der Sport, vor allem der immer populärer werdende Fußball, wurde als »undeutsch« abqualifiziert. Die Auseinandersetzungen endeten Anfang der 1920er-Jahre in der »reinlichen Scheidung«: Sport und Turnen wurden voneinander separiert.

Nach der weltanschaulichen Zersplitterung in der Weimarer Republik kam es im sogenannten »Dritten Reich« zur gegenläufigen Entwicklung: der Gleichschaltung. So wurde in Kastel in den 1930er-Jahren nach und nach die Turngesellschaft mit der Fußballvereinigung, der Borussia, und dem Turnverein zur »Turn- und Sportgemeinschaft 1846« zusammengeschlossen. Der organisierte bürgerliche Sport ließ sich ohne nennenswerten Widerstand von den Nationalsozialisten vereinnahmen: Der Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft, Edmund Neuendorff, schrieb schon 1933 an Reichskanzler Hitler, die DT werde sich Seite an Seite mit SA und Stahlhelm stellen. Die Arbeitersportvereine und die konfessionellen Klubs wurden dagegen verboten. Die Kasteler Turnhalle mit Vereinshaus und Sportplatzgelände wurde 1944 bei einem Fliegerangriff zerstört, vergleichbare Schäden trafen auch die übrigen Vereine der Stadt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es deshalb, wieder von vorne anzufangen und zu improvisieren. So mussten beim TV Erbenheim (TVE) die 100 m diagonal gelaufen werden, weil der Sportplatz am Wasserwerk nicht lang genug war. Dennoch richtete der TVE bereits 1949 wieder ein Gauturnfest aus. Die Tischtennisabteilung hielt ihren Spielbetrieb in den Gasthäusern aufrecht. Doch der Neuaufbau nach dem »Dritten Reich« und Zweiten Weltkrieg bezog sich nicht nur auf Gebäude und Sportanlagen, sondern auch auf Gedanken und Ziele. Nach der Besetzung Wiesbadens durch amerikanische Truppen im März 1945 verbot die Militärregierung zunächst alle Turn- und Sportvereine. Die meisten Hallen wurden beschlagnahmt, sofern sie nicht zerstört waren. Die Vereine mussten sich neu um eine Zulassung bewerben und dann bewähren.

Gemeinnützigkeit und Demokratische Grundordnung waren die Säulen des Vereinslebens in der Bundesrepublik. In den 1960er-Jahren bildete das »Memorandum zum Goldenen Plan für Gesundheit, Spiel und Erholung«, kurz »Goldener Plan«, die zentrale Aufgabenstellung im deutschen Sport. Die Deutsche Olympische Gesellschaft hatte zur Schaffung von Erholungs-, Spiel- und Sportstätten einen öffentlichen Investitionsbedarf von über sechs Milliarden DM ermittelt. Nach 15 Jahren war der Plan fast vollständig umgesetzt; flächenübergreifend im ganzen Land, und somit auch in Wiesbaden, waren Hallen und Sportplätze entstanden.

Heute zeigt die Breitensportstatistik der Stadt Wiesbaden, dass Turnen nach wie vor Sportart Nr. eins ist, allerdings in völlig neuartiger Ausrichtung. Insgesamt waren 2008 in Wiesbaden 67.800 Menschen Mitglieder in Sport- oder Turnvereinen. Von den 114 Sportarten, die in 219 Vereinen angeboten werden, ist Turnen die größte Sparte; sie vereint 18.696 Mitglieder auf sich. Der Kanon hat allerdings nicht mehr viel mit dem strengen Jahnschen Turnen früherer Prägung zu tun: Gymnastik, Tanztraining und Rückenschule haben allerorten wettkampfmäßiges Geräteturnen weitgehend verdrängt. Diese Entwicklung ist symptomatisch für die gesamte moderne Turnbewegung. Wer das Turnen, den Sport oder die Bewegung allgemein fördern will, muss offen sein für Neuentwicklungen, lautet die Devise.

Eine große Herausforderung im 21. Jahrhundert wird sein, ob sich der Turnverein angesichts gestiegener Anforderungen an den Übungsbetrieb und seine Trainer bei gleichzeitig geringer werdenden Bindungen seiner Mitglieder heute und in Zukunft eher als Dienstleistungsbetrieb verstehen muss. Zudem stellt sich die Frage, wie er das Ehrenamt als Basis seiner Vereinsaktivitäten in Zeiten extremer gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, Globalisierung und verändertem Freizeitverhalten erhalten oder gar stärken kann.

Literatur

Neese, Bernd-Michael: Die Turnbewegung im Herzogtum Nassau in den Jahren 1844–1871, 2 Bde., Wiesbaden 2002.

Neese, Bernd-Michael: Der Turnverein Wiesbaden in den Jahren 1846 bis 1852, undat. MS im Stadtarchiv Wiesbaden.

Einladungskarte zum 24. Mittelrheinischen Kreisturnfest in Wiesbaden, 1899 wiesbaden.de/ Stadtarchiv Wiesbaden, PK-153, Urheber: unbekannt
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