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Heinrich-Pette-Straße (Bierstadt)

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Auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 23. Februar 1967 wurde eine Straße im Stadtteil Bierstadt nach dem Arzt und Universitätsprofessor Heinrich Pette (1887-1964) benannt.

Heinrich Pette wurde am 23. November 1887 in Eickel geboren. Er studierte in Marburg, Berlin, München und Kiel Medizin und legte in Kiel 1912 sein Erstes Staatsexamen ab. Ein Jahr später folgte die Promotion, ebenfalls in Kiel. Während des Ersten Weltkrieges war Pette als Sanitätsoffizier bei der Marine tätig. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Assistenzarzt in Leipzig und Essen und nahm anschließend eine weitere Assistenzarztstelle in der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf an.

1923 habilitierte Pette sich in Hamburg, vier Jahre später wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. In den Jahren 1929 und 1930 war er als Direktor der Nervenklinik Magdeburg tätig und wechselte 1930 als Leitender Oberarzt an das Hamburger Allgemeine Krankenhaus St. Georg, wo er bis 1934 blieb.

Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten trat Heinrich Pette zum 1. Mai 1933 der NSDAP bei. Der Parteieintritt war wohl vor allem in Pettes Karriereambitionen begründet. Tatsachlich übernahm er im Juli 1934 die Leitung der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Im Folgejahr wurde er zum Zweiten Vorsitzenden der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP) gewählt.

Außer in der NSDAP wurde Pette auch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, dem NS-Altherrenbund und dem NS-Ärztebund. In keiner dieser Organisationen bekleidete er ein Amt.

Den von den Nationalsozialisten eingeleiteten gesundheitspolitischen Maßnahmen stand Pette positiv gegenüber. Besonders unterstützte er bis Mitte der 1930er Jahre »rassenhygienische« Ansätze. In Vorträgen und Veröffentlichungen versuchte er entsprechend zeitgemäße Ansätze der Neurologie zu entwickeln. Zum Ende der 1930er Jahre wandelte sich Pettes Einstellung allerdings. Er stellte sich nun offen gegen »erbbiologische« Ansätze, sofern sie seinen Forschungen widersprachen. Pette führte wissenschaftliche Argumente gegen die Erbbiologie ins Feld, sodass seine Kritik also wissenschaftlicher und nicht politischer Natur war. Als zweiter Vorsitzender der GDNP pflegte Pette politische Kontakte und bekannte sich öffentlich mehrfach zum NS-Regime. So hielt er 1938 eine überschwängliche Lobrede auf Adolf Hitler und dessen Gesundheitspolitik.

Pette war insgesamt an 16 Beschlüssen der Erbgesundheitsobergerichte zur Zwangssterilisation als Gutachter beteiligt. Bei drei Beschlüssen im Jahr 1940 gab er dem Widerspruch von Betroffenen nach und befürwortete abschließend die Sterilisation nicht. Somit hatte Pette einen Spielraum bei seinen Entscheidungen und setzte ihn dort ein, wo Entscheidungen zur Sterilisation seinen wissenschaftlichen Überzeugungen widersprachen, etwa bei Fallen von Epilepsie. Bei anderen »Erkrankungen« befürwortete Pette hingegen eine Sterilisation, etwa bei »Schwachsinn« oder »Trunksucht«, obwohl die zeitgenössische Perspektive auf die Erblichkeit bereits kritisch war und valide wissenschaftliche Nachweise fehlten.

In manchen Fällen setzte Pette seine Diagnose einer Erbkrankheit auch gegen die Ansicht des Erbgesundheitsobergerichts und damit eine Sterilisation durch. Insgesamt konnten vier solcher Fälle rekonstruiert werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg behauptete Pette in seinem Entnazifizierungsverfahren, dass er aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Erbgesundheitsgesetz in Konflikt mit dem Vorsitzenden des Erbgesundheitsgerichts geraten und von der Gutachtertätigkeit ausgeschlossen worden sei. Die Ergebnisse der umfassenden Studien zu Pette belegen allerdings das Gegenteil. Pette wurde von den Verfahren weder ausgeschlossen noch boykottierte er sie. In seinem Entnazifizierungsverfahren versuchte Pette vielmehr, sein persönliches Handeln im Rahmen der Erbgesundheitsverfahren durch Lügen zu verschleiern.

Nach Beendigung seines Entnazifizierungsverfahrens konnte Pette auf seine Position als Leiter der Neurologischen Klinik in Hamburg zurückkehren. Zusätzlich forschte er ab 1948 an einem Stiftungsinstitut über spinale Kinderlähmung und Multiple Sklerose. Das Stiftungsinstitut wurde 1965 in Heinrich-Pette-Institut umbenannt.

In der Nachkriegszeit setzte Pette seine Exkulpationsstrategie auch jenseits des Entnazifizierungsverfahrens fort. Er entwarf ein Selbstbild, welches ihn zunächst als Kritiker des NS-Regimes, dann sogar als Oppositionellen und schließlich in einer Widerstandsrolle darstellte. Ein Höhepunkt dieser Selbstviktimisierung war Pettes Aussage im Heyde/Sawade-Untersuchungsausschuss des Landtages von Schleswig-Holstein 1961. Der Ausschuss untersuchte, ob Vertreter der schleswig-holsteinischen Landesregierung und mehrere Mediziner Werner Heyde (alias Fritz Sawade), einen der Hauptverantwortlichen der T4-Aktion, über Jahre gedeckt hatten. Pette hatte Heyde/Sawade 1952 getroffen, was ihm den Vorwurf einbrachte, von dessen Identität gewusst und diese nicht gemeldet zu haben. Er berichtete im Untersuchungsausschuss nun, dass er Verfolgter und Vorkämpfer gegen die »Euthanasie« gewesen sei.

Heinrich Pette starb am 2. Oktober 1964 in Meran (Italien). Als Neurologe hatte er auf dem Gebiet der spinalen Kinderlähmung und der Multiplen Sklerose internationale Bekanntheit und Bedeutung erworben. Er wurde hoch geehrt, u. a. erhielt er 1957 das Große Bundesverdienstkreuz. Im Jahr 1963 wurde ihm die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen.

Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus lag hingegen lange im Dunkeln. Das nach ihm benannte Fachinstitut sah sich erst 2012 veranlasst, eine Untersuchung der Vergangenheit Heinrich Pettes zu beauftragen.

Dieses Gutachten hatte allerdings aufgrund des kurzen Bearbeitungszeitraums von acht Wochen, in dem nicht alle Quellenbestände gesichtet werden konnten, kein eindeutiges Bild zur Person Pette geben können. Das Heinrich-Pette-Institut entschied sich aus diesem Grund, ein Zweitgutachten in Auftrag zu geben. 2014 wurden die beiden Historiker Axel Schildt und Malte Thiesen mit diesem Nachfolgeprojekt beauftragt. Schildt und Thiesen erschlossen in ihrer Studie neue Quellenbestände und lieferten ein umfassenderes Bild von Pette. Auf Grundlage ihrer Ergebnisse kam das Heinrich-Pette-Institut zu der Entscheidung, auf seinen Namensgeber zu verzichten und sich bis zum Ende eines Namensfindungsprozesses Leibnitz-Institut für Experimentelle Virologie zu nennen.

Die auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung 2020 berufene Historische Fachkommission zur Überprüfung nach Personen benannter Verkehrsflächen, Gebäude und Einrichtungen der Landeshauptstadt Wiesbaden empfahl die Umbenennung der Heinrich-Pette-Straße wegen Pettes Mitgliedschaften in verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen (NSDAP, NSDÄB, NSV, NS-Altherrenbund). Er übernahm als stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater Ämter und Funktionen in nationalsozialistisch gleichgeschalteten berufsständischen Organisationen innerhalb des NS-Staates.

Durch sein Eintreten für die und sein Mitwirken an der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, insbesondere als Gutachter bei sogenannten Erbgesundheitsverfahren im Sinne des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« von 1933, unterstutzte Pette das NS-Regime und bekannte sich wahrnehmbar zum Nationalsozialismus. Durch seine Mitwirkung an Sterilisationsverfahren schädigte er bewusst andere Personen und nahm aktiv an der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Personengruppen während des »Dritten Reiches« teil. Nach dem Ende der NS-Herrschaft relativierte und verharmloste Pette die Verbrechen des NS-Regimes und relativierte seine eigene Rolle in beschönigender und exkulpativer Absicht.

Literatur