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Kindertagesstätten

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Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland in der Regel auf Privatinitiative sogenannte Kinderbewahranstalten. Hier sollten Kinder meist ärmerer Familien im Vorschulalter tagsüber betreut werden, um sie zu »Reinlichkeit und Ordnung« zu erziehen und ihnen eine ihrem Alter und ihrer Auffassungsgabe angemessene »Ausbildung« zu ermöglichen. Dahinter stand die Befürchtung, dass Kindern ohne entsprechende Fürsorge durch das Elternhaus Verwahrlosung und ein Abrutschen in die Kriminalität drohten.

In Wiesbaden mietete der Jungfrauenverein 1835 Räume, um Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren während des Tages zu betreuen. Als schon nach wenigen Jahren die Zahl der zu beaufsichtigenden Kinder von 14 auf über 100 gestiegen war, bemühten sich die Initiatorinnen um ein eigenes Gebäude, das 1839 bezogen werden konnte. Gleichzeitig erweiterten sie den Kreis der zu Betreuenden. Waisenkinder fanden ständige Aufnahme und am Nachmittag wurden Schulkinder betreut. 1844 und 1846 musste das Haus erneut vergrößert werden. Eine Spende von Julius von Knoop über 50.000 Mark ermöglichte 1880 einen Neubau.

Der Schwerpunkt der Arbeit in der Kinderbewahranstalt veränderte sich. Die Zahl der Plätze für Kinder im Kindergartenalter wurde jetzt auf 16 beschränkt. Der größte Teil wohnte nun direkt in der Anstalt, andere kamen nach der Schule dorthin. Im Kindergarten wurden die Tageskinder gemeinsam mit den in der Kinderbewahranstalt wohnenden gleichaltrigen Kindern versorgt. Einen anderen Ansatz als den der »Bewahrung« der Kinder vor Verelendung hatten die von dem Pädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852) in Bad Blankenburg seit 1840 ins Leben gerufenen Kindergärten, die sich meist an bürgerliche Familien richteten. Fröbel ging von der großen Bedeutung der frühkindlichen Phase für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit aus und empfahl besondere Spiel- und Lernmaterialien, um die Kinder zu fördern. Hierzu gehörten Bauklötze wie Würfel, Walzen oder Kugeln aus Holz oder Bewegungsspiele für Ältere. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich auch in der Wiesbadener Kinderbewahranstalt die von Fröbel entwickelte Pädagogik durch.

Da die Wiesbadener Kinderbewahranstalt den Bedarf an Betreuungsplätzen um 1900 nicht mehr decken konnte, ging 1899 der sogenannte Volkskindergarten in Betrieb, den die Stadt Wiesbaden verwaltete. Sein Angebot richtete sich an arbeitende Eltern. Die finanzielle Grundlage bildete eine Stiftung. Das Gebäude mit eigenem Spielplatz wurde in der Gustav-Adolf-Straße errichtet. Die drei Kindergärtnerinnen wohnten mit der Haushälterin und dem Dienstmädchen im Haus. Auch hier wurden die Kinder unter anderem mit Fröbelschen Arbeiten beschäftigt. Außerdem erhielten sie vormittags und nachmittags stundenweise Unterricht und wurden einmal wöchentlich gebadet. 1908 besuchten rund 70–80 Kinder die Einrichtung. Neben dem Volkskindergarten gab es drei weitere, private Kindergärten, die jeweils rund 30–50 Kinder aufnahmen.

Um 1900 richteten vor allem Kirchengemeinden und private Träger Kindergärten ein. 1912 gründete z. B. die Lutherkirchengemeinde ihre »Kleinkindschule«. Bis zu den 1930er-Jahren stieg die Zahl der Kinderbetreuungseinrichtungen weiter an. 1937 gab es in Wiesbaden 29 Kindergärten (darunter drei städtische), die rund 1.500 Kinder unter sechs Jahren besuchten. Mitte der 1950er-Jahre bestanden in Wiesbaden insgesamt 50 Kindertagesstätten unterschiedlicher Träger (35 von Kirchengemeinden und kirchlichen Verbänden, drei der Arbeiterwohlfahrt, ein Betriebskindergarten und elf private Einrichtungen). Die Stadt besaß in dieser Zeit keine eigenen Betreuungseinrichtungen mehr; sie unterstützte jedoch finanziell die bestehenden Betreiber.

Als erste städtische Kindertagesstätte nach dem Zweiten Weltkrieg öffnete 1960 der Kindergarten in der Hasengartenstraße mit anfangs 60 Kindergarten- und 20 Hortplätzen. Insgesamt gab es damals rund 4.300 Plätze in den Tageseinrichtungen Wiesbadens. Wie bereits in der Frühzeit der Wiesbadener Kindertagesstätten bemühte man sich vor allem, benachteiligte Kinder zu unterstützen.

In den 1960er-Jahren stieg die Nachfrage nach Betreuungsplätzen für Kinder unter sechs Jahren, aber auch für Schulkinder am Nachmittag aufgrund des Wunsches vieler Frauen nach eigener Berufstätigkeit. Wiesbadener Kommunalpolitiker beklagten die große Zahl sogenannter Schlüsselkinder und lehnten es ab, weibliche Berufstätigkeit, die zum Ziel habe, sich Luxusgegenstände leisten zu können, zu unterstützen. In den folgenden Jahren griffen viele Eltern zur Selbsthilfe und gründeten eigene Kindertagesstätten. Im neuen Stadtteil Klarenthal öffnete 1969 ein von Eltern getragener Kindergarten, zu dessen Initiatoren auch die Stadtverordnete Hedwig Schmitt-Maaß zählte.

Im Verlauf der 1970er-Jahre ergriff die Stadt Wiesbaden vermehrt die Initiative und rief neue Kindergärten ins Leben. Mitte der 1970er-Jahre besaß Wiesbaden rund 5.100 Kindergartenplätze, d. h. 71 % aller Kinder unter sechs Jahren konnten eine Kindertagesstätte besuchen. Der Ausbau des Angebots ging auch in den folgenden Jahren weiter, so dass 1981 das städtische Jugendamt 103 Kindertagesstätten in Wiesbaden, davon 21 städtische, 34 vom Diakonischen Werk und 27 vom Caritasverband getragene sowie fünf von der Arbeiterwohlfahrt und 16 von eingetragenen Vereinen meldete.

Da seit 1996 in Deutschland ein Rechtsanspruch auf einen Halbtagsplatz für Kinder zwischen drei und sechs Jahren besteht, wurden die Angebote auch in Wiesbaden noch weiter ausgebaut; mit dem ab August 2013 geltenden Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder bis drei Jahre kamen zahlreiche neue Betreuungsplätze für die Kleinsten hinzu. 2014 gab es rund 180 Kindertagesstätten, in denen über 12.000 Kinder im Alter zwischen wenigen Monaten und 12 Jahren in Krippen, Kindergärten und Hortgruppen betreut wurden, davon 36 in städtischer Trägerschaft.

Die pädagogischen Konzepte, nach denen die Einrichtungen arbeiten, sind vielfältig: Neben Montessori- und Waldorf-Kindergärten bestehen Musik- oder Waldkindergärten. Es gibt inklusive Betreuungseinrichtungen, bilinguale Kindergärten, in denen der Nachwuchs zweisprachig betreut wird, sowie konfessionelle Kindertagesstätten, in denen die religiöse Erziehung einen breiteren Raum einnimmt. In allen Kindertagesstätten besteht heute die gemeinsame Überzeugung, dass sie wichtige Einrichtungen frühkindlicher Bildung sind.

Literatur

Kalle, Fritz/Mangold [Emil]: Die Wohlfahrtseinrichtungen Wiesbadens, Wiesbaden 1902.

Herzfeld, Gottfried: Freizeiteinrichtungen für Jugendförderung und Kulturpflege, Leibesübungen und Sport in der Stadtgemeinde Wiesbaden, Wiesbaden 1956 [S. 1–14].

Die öffentliche Gesundheitspflege Wiesbadens. Von der Stadt Wiesbaden dargebotene Festschrift. Hrsg.: Rahlson, H[elmut] im Auftrag des Magistrats, Wiesbaden 1908.

Verwaltungsberichte der Stadt Wiesbaden 1910–1976.