Sprungmarken

Wohnungsbau in den 1920er-Jahren

Artikel

Die Planung von Wohnvierteln in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs unterscheidet sich in charakteristischer Weise von der in der Weimarer Republik. Die im Kaiserreich entstandenen Stadtteile atmen den Geist der Klassengesellschaft mit ihrem hoch entwickelten Bedürfnis nach auch optisch erkennbarer sozialer Distinktion: Hinter den prunkvollen Fassaden der Vorderhäuser, in denen die gehobenen Schichten wohnten, verbargen sich in den erheblich schmuckloseren Hinterhäusern die engen und lichtlosen Wohnungen des Proletariats. Für die Abstände zwischen Vorder- und Hinterhaus, für die Geschosshöhen und die Hinterhöfe entwickelten Stadtplaner genaue Maße, die dem Bedürfnis nach sozialer Differenzierung der Bewohner der Vorderhäuser entsprachen. Den Geist der wilhelminischen Klassengesellschaft reflektierten auch die unterschiedlichen Eingänge, aufwändig gestaltet die zu den Vorderhäusern, eng und niedrig dagegen die zu den Hinterhäusern.

Ganz anders dagegen der Wohnungsbau in den 1920er-Jahren. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte nicht nur in Wiesbaden großer Mangel an preiswertem Wohnraum. Auch wurde die Wohnungsnot noch verschärft durch die bis 1930 anwesenden Besatzungsmächte, für deren Angehörige man zusätzlichen, adäquaten Wohnraum benötigte, nachdem vorhandener bereits in großem Maßstab beschlagnahmt worden war. Um der Wohnungsnot zu begegnen, wurden unter der Leitung des städtischen Hochbauamtes zum einen ab 1920/21 die zahlreichen sogenannten Franzosenhäuser errichtet. Für Unteroffiziere entstanden z. B. im Westend die Häuser Klarenthaler Straße 7–17 und für Offiziere im Dichterviertel unter anderem die repräsentativen Eckhäuser Klopstockstraße 14/Wielandstraße 16 (1920) und Klopstockstraße 3/Schenkendorffstraße 8 (1922), letzteres von Friedrich Werz.

Zum anderen wurden große soziale Wohnungsbauprojekte umgesetzt, um die Wohnungsnot der übrigen Bevölkerung zu beheben. Es entstanden ausgedehnte Mietwohnungsblöcke unter anderem im Westend, im Rheingauviertel und an der Waldstraße, bescheidenere im Dichterviertel. Zu den Maßnahmen des kommunalen Wohnungsbaus im Westend gehören unter anderem die Häuser Klarenthaler Straße 19–23 (1922/23), die Schließung des Blocks zwischen Eckernförde- und Westerwaldstraße (1925/26) sowie die geschlossene Blockrandbebauung zwischen Klarenthaler Straße, Blumenthalstraße, Manteuffelstraße und Elsässer Straße (ab 1928). Besonders am Elsässer Platz ist die gravierende Veränderung im Wohnungsbau zu beobachten: Nordöstlich des Platzes ist die enge Bebauung der Kaiserzeit zu sehen, südwestlich die großräumige, Licht, Luft und Sonne verheißende der Weimarer Republik.

An die Stelle der Hinterhäuser sind oftmals großzügige Rasenflächen getreten, die von allen Bewohnern genutzt werden können. Die Fassaden verkünden nicht die soziale Stellung der Bewohner, sondern betonen in der Gleichförmigkeit ihrer Gestaltung deren soziale Gleichheit.

Auch im Rheingauviertel entstanden auf beiden Seiten des Loreleirings Wohnblöcke, darunter nordöstlich der schmalrechteckige Block zwischen Loreleiring und Marcobrunner, Oestricher sowie Kiedricher Straße (ab 1926) und südwestlich die Bebauung der Kauber und Oestricher Straße in schlichten, strengen Formen durch Heinrich und Rudolf Dörr (1930–32). Im Dichterviertel wurden in erster Linie vorhandene Lücken bebaut, so die obere Klopstockstraße mit den Häusern 25b-29 und Hebbelstraße 7 (1926/27). Der Block zwischen Wieland-, Klopstock- und Rückertstraße wurde mit den Häusern Eichendorffstraße 1–7 und Rückertstraße 5 geschlossen (1926). Nordöstlich der Waldstraße entstand 1928/29 zwischen Baum- und Jägerstraße die Wohnsiedlung »Hinter den Bögen«.

Die in den 1920er-Jahren entstandenen Bauten folgen überwiegend einem traditionalistischen, historisierenden Baustil, der den Übergang von der kaiserzeitlichen Mietshausbebauung zum sozialen Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg vermittelt. Die schmückende Ornamentik der Hausfassaden, z. B. in Supraporten, Tür- und Fenstergewänden, ist in der Regel äußerst zurückhaltend. Neben Anklängen an den Jugendstil finden sich vor allem expressionistisch gestaltete Motive. Der moderne Funktionalismus spielte im sozialen Wohnungsbau Wiesbadens keine Rolle.

Literatur

Sigrid Russ, Bearb., Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.2 – Stadterweiterungen innerhalb der Ringstraße. Hrsg.: Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Stuttgart 2005.

Sigrid Russ, Bearb., Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen. Wiesbaden I.3 – Stadterweiterungen außerhalb der Ringstraße. Hrsg.: Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Stuttgart 2005.