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Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg

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Wie überall im Deutschen Reich, so mussten auch in Wiesbaden während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeiter beiderlei Geschlechts Zwangsarbeit leisten. Sie waren unverzichtbar, um die Kriegsproduktion und die Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Diese sogenannten Fremdarbeiter gehörten zur Normalität des Kriegsalltags, sie wurden jedoch aus rassenideologischen Gründen ausgegrenzt, ausgebeutet und als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Ende 1944 befanden sich 6.500–7.000 ausländische Zwangsarbeitskräfte aus 16 Ländern in Wiesbaden und den heute eingemeindeten Vororten. Ein großer Teil von ihnen lebte in Fabriklagern, getrennt nach Nationalitäten, Status und Geschlecht. Staatliche Verordnungen legten eine unterschiedliche Verpflegung und Behandlung von »Ostarbeitern« und »Westarbeitern« fest. Größere Firmen, wie Kalle & Co., die Rheinhütte und die Didierwerke in Biebrich, die Glyco-Metallwerke in Schierstein, die Chemischen Werke Albert in Amöneburg, Buchhold-Keller in Bierstadt, Horn & Söhne sowie Lermer Stahlbau in der Dotzheimer Straße, die Maschinenfabrik Wiesbaden GmbH und Klinger-Kolb in Dotzheim sowie W. Söhngen & Co. in der Waldstraße, unterhielten eigene Lager. Kleinere Firmen brachten ihre ausländischen Arbeitskräfte in Sammellagern unter. Insgesamt gab es 45–50 Ausländerlager im Stadtgebiet samt Vororten. Die in der Landwirtschaft, in Privathaushalten, in der Gastronomie und in Handwerksbetrieben beschäftigten Zivilarbeitskräfte wohnten meist einzeln bei ihren Arbeitgebern.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 brachte man schon bald polnische Kriegsgefangene ins Deutsche Reich. In Wiesbaden trafen Anfang November die ersten Arbeitskommandos ein. Sie waren von den Ortsbauernschaften Erbenheim und Bierstadt angefordert worden, da seit der Mobilisierung Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft herrschte. Die Bauern waren mit den Polen, die häufig vom Dorf stammten, sehr zufrieden. Da der Bedarf mit den Gefangenen nicht gedeckt werden konnte, wurden auch polnische Zivilisten nach Deutschland gebracht, davon mindestens 436 Männer und 228 Frauen nach Wiesbaden.

Bald klagte der Reichssicherheitsdienst darüber, dass die Polen von den Bauernfamilien allzu freundlich behandelt würden und dass sich deutsche Frauen mit polnischen Männern einließen. Man fürchtete eine »Überfremdung«. Um einen zu engen Kontakt zur deutschen Bevölkerung zu verhindern, erließ das NS-Regime am 08.03.1940 die »Polenerlasse«. Die Polen mussten nun auf der Kleidung ein »P« als Kennzeichnung tragen; sie wurden vom kulturellen Leben ausgeschlossen; es galt für sie ein nächtliches Ausgehverbot und sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Verstöße wurden von der Gestapo häufig mit der Einweisung in ein Arbeitserziehungslager oder ein KZ bestraft. Für Liebesbeziehungen zwischen polnischen Männern und deutschen Frauen war für Polen »Sonderbehandlung« vorgesehen, d. h. sofortiges Erhängen (ohne Gerichtsverfahren). So wurde in Wiesbaden der 27-jährige Eduard Seweryn wegen sexueller Beziehungen zu einer Deutschen am 10.06.1942 im Wald bei der Fasanerie hingerichtet.

Ab Sommer 1940, nach dem »Blitzkrieg« im Westen, wurden auch französische Kriegsgefangene in großer Zahl nach Deutschland verbracht. Im Juli/August 1940 trafen die ersten Arbeitskommandos in Wiesbaden ein. Die Stadtverwaltung richtete als Unterkunft die Turnhalle in Dotzheim her. In den besetzten Teilen Frankreichs wurden auch zivile Arbeitskräfte angeworben; die Zahl der Freiwilligen blieb jedoch gering. Der »Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz«, Fritz Sauckel, forderte jedoch von Frankreich 1942 ein Kontingent von 250.000 Arbeitskräften an. Um diese Forderung erfüllen zu können, führte das Vichy-Regime im September 1942 die generelle Arbeitspflicht für Männer von 18 bis 50 Jahren und für ledige Frauen unter 35 ein, den »Service du Travail Obligatoire« (kurz S.T.O.), der nach neuen deutschen Forderungen Anfang 1943 noch ausgeweitet wurde. In Wiesbaden arbeiteten allein bei der Firma Kalle über 400 Franzosen; die verschiedenen Arbeitskommandos umfassten 600–700 Kriegsgefangene. Insgesamt waren wohl mindestens 1.200 Männer und 200 Frauen aus Frankreich hier im Einsatz; darüber hinaus etliche andere Westeuropäer, vor allem aus Belgien und den Niederlanden.

Die zivilen »Westarbeiter« hatten mehr Freiheiten als die »Ostarbeiter« und erhielten etwas höhere Essensrationen. Doch auch sie unterlagen vielen Zwängen. So durften sie ihren Arbeitsplatz und die Gemeinde nicht verlassen. Die in den Fabriklagern lebenden Franzosen litten meist unter Hunger. Der Kontakt mit den Deutschen, aber auch mit den »Ostarbeitern«, ja sogar mit ihren kriegsgefangenen Landsleuten, war ihnen untersagt; bei Zuwiderhandlungen oder mangelnder Arbeitsdisziplin drohten harte Strafen. Auch wurden die Franzosen häufig der Sabotage und Spionage verdächtigt. In Wiesbaden wurden mindestens 21 Franzosen und drei Französinnen in ein Arbeitserziehungslager, sechs Französinnen in das KZ-ähnliche »Erweiterte Frauengefängnis Hirzenhain«, acht Franzosen und zwei Französinnen in ein KZ eingewiesen; andere erhielten Gefängnisstrafen. Auch mehrere Belgier erlitten ein solches Schicksal.

Einen Sonderfall stellten die Italiener dar, die als »Italienische Militärinternierte« (IMI) nach dem Bruch Italiens mit Hitler-Deutschland im Sommer 1943 zwangsweise nach Deutschland gebracht wurden, ein Teil auch nach Wiesbaden. Sie wurden vor allem zum Trümmerräumen nach Luftangriffen eingesetzt und als Verräter verachtet.

Eine weitere Stufe des Ausländereinsatzes wurde nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erreicht. Die bald in großer Zahl nach Deutschland transportierten Gefangenen und Zivilarbeitskräfte wurden von der NS-Propaganda als »Untermenschen« und gefährliche Bolschewisten dargestellt und entsprechend behandelt. Am 24.07.1942 traf das erste Arbeitskommando von sowjetischen Gefangenen in Wiesbaden ein, nachdem bereits im Mai 1942 der erste größere Transport von zivilen »Ostarbeiterinnen« in Wiesbaden angekommen war. Die meisten dieser 96 Frauen und Mädchen, die fast alle der Firma Kalle & Co. in Biebrich als Chemiehilfswerkerinnen zugeteilt wurden, waren erst 15–25 Jahre alt. Nach und nach stieg die Zahl der »Ostarbeiterinnen« in Wiesbaden auf etwa 1.500 an. Davon arbeiteten fast 1.100 in der Industrie, wo sie dieselbe Schwerarbeit wie Männer verrichten mussten, und etwa 100 bei der Reichsbahn. Auch die Stadtverwaltung beschäftigte »Ostarbeiterinnen«, z. B. bei der Müllabfuhr. Von den über 730 namentlich bekannten sowjetischen Männern waren fast 450 in der Industrie und über 150 bei der Reichsbahn eingesetzt.

Die »Ostarbeiterinnen« und »Ostarbeiter« wohnten in überaus einfachen Lagern, die anfangs von Stacheldraht umgeben waren und die sie nur zur Arbeit verlassen durften. Ihr Alltag war durch die »Ostarbeiter-Erlasse« bis ins Kleinste reglementiert. Den NS-Behörden lag vor allem daran, den Kontakt zu den Deutschen und jedes Gefühl von Solidarität zu unterbinden. Dennoch gab es mutige Menschen, die den Zwangsarbeitern trotz Strafandrohung aus Mitleid halfen.

Wie bei den Polen war bei »Geschlechtsverkehr mit Deutschen« die Todesstrafe, bei »Arbeitsvertragsbruch« und anderen Disziplinwidrigkeiten Lagerhaft vorgesehen. Eine unvorhergesehene Komplikation stellten die häufigen Schwangerschaften bei den »Ostarbeiterinnen« dar. Sie fielen zeitweise als Arbeitskräfte aus, und die Kinder mussten nach der Entbindung versorgt werden. Vom NS-Regime wurde daher angestrebt, »rassisch unerwünschten Nachwuchs« möglichst zu verhindern. Laut einer Rundverfügung des Reichsgesundheitsministers vom 11.03.1943 durfte bei »Ostarbeiterinnen« die Schwangerschaft abgebrochen werden. War der »Erzeuger« aber ein Deutscher oder anderer »Arier«, durfte keine Abtreibung vorgenommen werden. »Rassisch wertvolle« Säuglinge sollten in die Obhut deutscher Fürsorgestellen (NS-Volkswohlfahrt, »Lebensborn«-Verein) gegeben werden. Den anderen Säuglingen drohte der Aufenthalt in sogenannten Ausländerkinderpflegestätten, wo man sie meist unter katastrophalen Bedingungen dahinvegetieren ließ. Schwangere »Ostarbeiterinnen« aus dem Stadtkreis Wiesbaden sollten zur Entbindung in dem vom Landesarbeitsamt eingerichteten Lager Pfaffenwald (bei Hersfeld) untergebracht werden, das für seine unmenschlichen Verhältnisse berüchtigt war. Ein Teil der Frauen brachte die Kinder jedoch in den Städtischen Krankenanstalten Wiesbaden zur Welt, wo deutlich bessere Bedingungen herrschten. Auch im städtischen »Lager Willi« erfolgten Geburten; im Juli 1944 lebten hier 86 »Ostarbeiterinnen« und 14 Kinder. Von 1942 bis Ende März 1945 wurden in Wiesbaden mindestens 164 Kinder von ausländischen Zwangsarbeiterinnen geboren, davon 85 von »Ostarbeiterinnen« und 45 von Polinnen. 43 dieser Säuglinge starben bis Kriegsende.

Eine größere Zahl der »Fremdarbeiter« fielen den nationalsozialistischen »Euthanasie«-Verbrechen zum Opfer. Meist war Tuberkulose der Grund für ihre Einweisung in eine der Mordanstalten. Dieses Schicksal erlitten mehrere Wiesbadener Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, die in den Landesheilanstalten Eichberg im Rheingau und Hadamar getötet wurden. In Wiesbaden wurden auch KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit eingesetzt, so z. B. Luxemburger und Niederländer des SS-Sonderlagers/KZ Hinzert, die Unter den Eichen Bunker für die SS bauen mussten.

Ebenso wurden Wiesbadener Juden nach Kriegsbeginn vom Arbeitsamt zwangsverpflichtet und mussten Schwerstarbeit leisten. In den letzten Kriegswochen war das Leben der »Fremdarbeiter« zunehmend durch Luftangriffe gefährdet. Da die Ausländer nicht die Luftschutzräume aufsuchen durften, war ihr Anteil an den Opfern sehr hoch. So verloren bei der Zerstörung des »Lagers Willi« am 09.03.1945 mindestens 20 Menschen, überwiegend sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder, das Leben. Die insgesamt mindestens 73 ausländischen Opfer von Luftangriffen sind fast alle auf dem Südfriedhof bestattet.

Gegen Kriegsende war das Leben der Zwangsarbeiter auch verstärkt durch Willkür- und Racheakte von Seiten der Gestapo und von SS-Leuten bedroht. In Wiesbaden wurden mindestens 18 sowjetischen Staatsangehörige erschossen. Für diese Taten war SS-Oberführer und Oberst der Polizei Hans Trummler, Befehlshaber des SS-Oberabschnitts Rheinland-Westmark, mit seinem Stab verantwortlich. Als sich im März 1945 die alliierten Truppen von Westen dem Rhein näherten, wurde ein Großteil der Lager evakuiert, und die Zwangsarbeiter wurden zu Fuß in Richtung Osten in Marsch gesetzt. Sie blieben häufig tagelang ohne Nahrung und mit oft nur unzureichender Kleidung der kalten Witterung ausgesetzt.

Nach dem Einmarsch der Alliierten wurde ein großer Teil der Ausländerinnen und Ausländer in sogenannten DP-Lagern gesammelt (DP = Displaced Persons). Diese unerwartet große Zahl von Menschen musste ernährt und medizinisch versorgt werden. In Wiesbaden richteten die US-Truppen für Tausende von Displaced Persons die Gersdorff-Kaserne in der Schiersteiner Straße als Unterkunft ein, deren Verwaltung im August 1945 vom Team Nr. 28 der »United Nations’ Relief and Rehabilitation Administration« (UNRRA) übernommen wurde. In den ersten Wochen nach Kriegsende gab es auch in Wiesbaden eine Reihe von Gewaltverbrechen und Racheakten, begangen von ehemaligen Zwangsarbeitern.

Im Mai begann die Repatriierung, die bis Ende Oktober 1945 weitgehend abgeschlossen war. Die Rückkehr der Franzosen, Belgier, Niederländer, Luxemburger und Italiener in ihre Heimat verlief unproblematisch. Die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeitskräfte wurden dagegen vielfach, aufgrund der Absprachen der Westalliierten mit Stalin auf der Konferenz von Jalta, gegen ihren Willen an der Elbe der Roten Armee übergeben. Da sie von Stalin der Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland verdächtigt wurden, hatten sie vielfach für ihr restliches Leben berufliche und gesellschaftliche Nachteile zu erleiden. In Wiesbaden blieben zahlreiche staatenlose Menschen zurück, die oft noch jahrelang in DP-Lagern lebten.

Literatur

Brüchert, Zwangsarbeit; Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart, München 2001.