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Zeitungswesen

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Mit einem bescheidenen Wochenblättchen unter dem sperrigen Titel »Hoch-Fürstliche Nassau-Saarbrück-Usingisch-privilegirte gemeinnützige Wießbader Nachrichten und Anzeige« startete die Druckerei von Johannes Schirmer 1770 in Wiesbadens später so üppige Presselandschaft. Von 1797 an erschien es als »Gnädigst privilegirte Wiesbader Nachrichten zur Beförderung des Nahrungsstandes«, ab 1806 als »Wiesbader Wochenblatt« und ab 1837 als Wiesbadener Wochenblatt. Auf wenigen Seiten und in geringer Auflage brachte das Blättchen amtliche Bekanntmachungen, die Listen der Kurgäste und die aktuellen Lebensmittelpreise.

Wiesbadens erste »richtige« Zeitung waren die von Johannes Weitzel herausgegebenen und von Ernst Ludwig (Louis) Theodor Schellenberg gedruckten »Rheinischen Blätter«. In maßvollem Liberalismus gehaltene, meist aus Weitzels Feder stammende Beiträge zu aktuellen Zeitfragen und Kommentierung der Tagesereignisse gaben der Zeitung das Gepräge. Weitzel unterstützte die Politik der nassauischen Landesregierung. Da es in Nassau von 1814–19 keine Pressezensur gab, konnte er ungehindert opponieren. In den linksrheinischen, nach Napoleons Niederlage preußisch gewordenen Gebieten fanden die »Rheinischen Blätter« gute Aufnahme und Verbreitung, weil Weitzel für die Interessen der von der preußischen Regierung enttäuschten Bevölkerung eintrat. Als sie sich aber zunehmend dem Standpunkt der preußischen Regierung annäherten, verloren sie auf der linken Rheinseite Leser und mussten 1820 vor allem deshalb ihr Erscheinen einstellen.

Bis 1848 waren die wenigen an Zeitungslektüre interessierten Wiesbadener auf auswärtige Zeitungen angewiesen, die vor allem nassauische Themen behandelten. Mit der Revolution 1848 schossen die Blätter nur so aus dem Boden. Den Anfang machte am 03.03.1848 – noch bevor die seit 1819 bestehende Pressezensur aufgehoben war – die »Freie Zeitung« (FZ). Sie gab sich zunächst radikal-demokratisch und hatte starken Zuspruch, der sich aber verringerte, als sich ihr Ton mäßigte. Am 10.03. folgte »Der Volksfreund«, der unter der Redaktion von Georg Philipp Lippe noch links von der FZ angesiedelt war. Einen Tag später erschien die erste Ausgabe der gemäßigt-konstitutionellen »Taunusblätter«. Am 13.03. folgte die von dem Juristen Karl Braun nebenberuflich redigierte und von Wilhelm Friedrich gedruckte »Nassauische Zeitung« (NZ), die im politischen Spektrum die Mitte besetzte.

Unter der Leitung von Wilhelm Heinrich von Riehl erschien ab dem 01.04. die »Nassauische Allgemeine Zeitung« (NAZ). Die NAZ war das Sprachrohr der liberalen Wiesbadener Bürger und das offiziöse Blatt der späteren Regierung Hergenhahn. Die Redakteure Braun und von Riehl, die beide für eine konstitutionelle Staatsform eintraten, kämpften mit rüden Mitteln um die Marktführerschaft ihrer Blätter und um persönliche Reputation. Die Regierung unterstützte Riehl, indem sie Braun nach St. Goarshausen versetzte. Am 01.01.1849 existierten von den Neugründungen nur noch die FZ und die NAZ, die sich nur durch staatliche Unterstützung halten konnte.

Als von Riehl 1850 Wiesbaden verließ, schleppte sich die NAZ unter der Redaktion von Dr. Aloysius Boczek noch bis 1854 dahin. Der FZ hingegen war ein langes Leben beschieden, wenn auch unter wechselnden Titeln, Eigentümern und politischen Richtungen. Die 1852 aus der FZ hervorgegangene »Mittelrheinische Zeitung« (MRZ) profitierte als nun einziges politisches nassauisches Blatt vom Ende ihrer früheren Konkurrenten. Aus Furcht vor der wiedererstarkten reaktionären Regierung Herzog Adolphs zu Nassau wurde ihre Haltung zunehmend gemäßigter. Der Regierung reichte aber eine angepasste Zeitung nicht, sie strebte nach einem ihr völlig zur Verfügung stehenden offiziösen Organ und unterstützte deshalb 1856 die Gründung der »Nassauischen Zeitung«, die aber nach nur zwei Jahren eingestellt wurde.

Unter dem Landtagsabgeordneten Karl Braun und dem Juristen Friedrich Lang strebten die oppositionellen nassauischen Liberalen nach einem publizistischen Sprachrohr. Zusammen mit ihrem Gesinnungsgenossen August Schellenberg und Adam Trabert als Redakteur gründeten sie 1859 die von Schellenberg gedruckte »Rhein-Lahn-Zeitung« (RLZ). Als der RLZ 1861 aus nichtigem Grund die Lizenz entzogen wurde, war dieses Ereignis Anlass, die rigiden Methoden der Unterdrückung der Meinungsäußerung durch die nassauische Regierung deutschlandweit anzuprangern. Gleichzeitig mit dem Verbot der RLZ erteilte die Regierung der »Wiesbadener Zeitung« (WZ), einem ihr freundlich gesonnenen Blatt, die Lizenz; die WZ wurde bald schon von der »Neuen Wiesbadener Zeitung« abgelöst, die sich aber auch nur bis 1864 halten konnte. Die Regierung konnte den Verlust verschmerzen, denn mit der »Nassauischen Landeszeitung« war Ersatz zur Stelle. Deren Ende kam 1866 mit dem Sieg Preußens im Krieg gegen Österreich. Die MRZ konnte sich aber nicht lange ihrer Stellung als alleinige Wiesbadener Zeitung erfreuen, da sich von ihr die »Neue Mittelrheinische Zeitung« abgespalten hatte, die aber schon ein Jahr später aufgeben musste.

Die Turbulenzen in der Wiesbadener Presselandschaft hielten unter veränderten Bedingungen auch in preußischer Zeit an. Für politische Zeitungen bedeutete die auf jedes Exemplar erhobene Steuer (»Zeitungsstempel«) neben dem Kautionszwang eine schwere Belastung. Das preußische Presserecht war liberaler als das nassauische gewesen, doch wusste Bismarck unliebsamen Verlegern und Redakteuren das Leben sauer zu machen. Eine Einflussnahme erfolgte vorzugsweise aber in Form von Vergünstigungen. Vor allem die zahlreichen reinen Anzeigenblätter blieben vom Kautionszwang und Zeitungsstempel auch dann befreit, wenn sie die propagandistischen Artikel brachten, die ihnen kostenlos von Bismarcks »Literarischem Büro« geliefert wurden. Dieser und manch anderer Versuchung widerstanden im ehemaligen nassauischen Territorium nur das 1852 gegründete Wiesbadener Tagblatt (WT) und die »Biebrich-Mosbacher Tagespost«. Als 1868 auch für die Lokalblätter, die politische Beiträge brachten, der Kautionszwang eingeführt wurde, gingen viele Verleger diesen Schritt nicht mit. Mitte der 1880er-Jahre schrieb nur eine Minderheit der etwa 60 Blätter regierungstreu oder konservativ.

Den von Preußen in »Allgemeiner Kalender für Nassau« umbenannten »Herzoglich Nassauischen allgemeinen Landeskalender«, den per Gesetz jede der ca. 50.000 Familien halten musste, nutzte die preußische Regierung – wie zuvor die nassauische – propagandistisch. Im November 1866 erhielt mit dem »Rheinischen Kurier« (RK) das erste Wiesbadener Blatt eine Lizenz von Preußen; 1874 wurden RK und MRZ unter dem Namen »Rheinischer Kurier. Mittelrheinische Zeitung« vereinigt. In diesem Blatt lebte die FZ von 1848 fort. Neben Dr. Bernhard Wilhelm Scholz redigierte mit Dr. Seibt ein Mann die Zeitung, der auf der Gehaltsliste des preußischen Innenministeriums stand. 1905 erwarb Eduard Bartling das Blatt und machte es zum Sprachrohr der Nationalliberalen Partei.

Mit der 1867 gegründeten »Allgemeinen Zeitung für Nassau«, die ein Jahr später ihren Namen in »Rheinische Volkszeitung« (RV) änderte und sich an eine katholische Leserschaft wandte, setzte sich die Reihe der kurzlebigen Zeitungen fort, denn die RV erlebte das Jahr 1870 nicht. Die ebenfalls 1867 gestarteten »Wiesbadener Nachrichten« überstanden nicht einmal ihr Gründungsjahr.

Fast alle nun folgenden Wiesbadener Zeitungsgründungen hatten eine längere Lebenserwartung. Leistungsfähige Druckmaschinen waren erfunden worden und führten zusammen mit revolutionären Neuerungen bei der Papierherstellung zu massiven Kostensenkungen bei der Zeitungsherstellung. Nun konnten sich auch Bevölkerungsschichten mit geringem Einkommen Zeitungen halten. Zudem war nach Gründung des Deutschen Reiches 1874 die Pressezensur fast gänzlich beseitigt worden. Es kam auch in Wiesbaden zu einer sprunghaften Vermehrung der gleichzeitig nebeneinander existierenden Titel. 1874–92 erschien die konservative »Nassauische Volkszeitung«, die gegen »Sozialdemokratie und die Pfaffen« agitierte und vehement für »Kaiser und Reich« eintrat. 1875–98 erschien das »Wiesbadener Anzeigenblatt«, das den politischen Tageszeitungen das Erstveröffentlichungsrecht der begehrten amtlichen »Bekanntmachungen der Polizeidirektion« abspenstig machte. Die »Wiesbadener Zeitung« (1877–85) unterstützte Bismarcks Politik, während sich die »Wiesbadener Nachrichten« (1884/85) für überparteilich hielten.

Mit dem von der Wiesbadener Verlagsanstalt herausgegebenen »Wiesbadener Generalanzeiger« (WG) hatte seit 1885 auch Wiesbaden eine preiswerte politische neutrale Familienzeitung erhalten, die sich im Gegensatz zur Meinungspresse zu einem guten Teil durch Anzeigen finanzierte. Neben politischen Nachrichten bot der WG seinen Lesern einen umfangreichen Unterhaltungsteil. In den 1880er-Jahren begann auch das WT, bisher ein reines Anzeigenblatt, sich zu einer Zeitung vom Generalanzeigertyp zu entwickeln. Mit der Berufung Walther Schulte vom Brühls zum Chefredakteur (1889) kämpfte es mit dem WG und dem RK um die Marktführerschaft in Wiesbaden.

Es spricht für die in Wiesbaden vorhandene Kaufkraft, dass sich neben diesen Blättern weitere Tageszeitungen halten konnten. Die »Wiesbadener Presse« (1886–99) war ein konservatives Meinungsblatt, das für die absolute Monarchie eintrat. Ebenfalls ein Meinungsblatt war das konservative »Wiesbadener Volksblatt« (1888–1903), das dem Zentrum nahe stand. Die sozialdemokratische »Volksstimme« erschien ab 1892, war 1933–45 von den Nationalsozialisten verboten und lebte 1948 noch einmal kurz auf. Die »Wiesbadener Bürgerzeitung« (1905–34) war zwar als Organ des Haus- und Grundbesitzervereins keine politische Tageszeitung, wird hier aber genannt, weil sie auf dem Anzeigenmarkt als Konkurrentin auftrat.

Ab 1908 nannte sich der RK »Wiesbadener Zeitung« (WZ) und führte den früheren Titel »Rheinischer Kurier« jetzt als Untertitel. 1912 wurde die WZ von der Wiesbadener Verlagsanstalt, bei der Eduard Bartling Hauptanteilseigner war, übernommen. Die WZ legte Wert auf ihre Abstammung von der »Freien Zeitung« von 1848. 1912 wurde die der evangelischen Kirche nahe stehende »Wiesbadener Warte« gegründet und 1913 mit der »Frankfurter Warte« vereinigt.

Während der Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die französische »Le Médiateur« (Die Vermittlerin) 1920–24 die Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern. Das antisemitische Kampfblatt »Rheinischer Beobachter« mit seiner Geschäftsstelle in Biebrich blieb eine Episode (erschien nur im Jahr 1921). Der WG nannte sich 1922 »Wiesbadener Neueste Nachrichten« mit dem Untertitel »Wiesbadener Generalanzeiger«, um sich im folgenden Jahr mit der WZ zusammengeführt als »Neue Wiesbadener Zeitung« (NWZ) zu präsentieren. Beide Blätter hatten vorher schon zur Wiesbadener Verlagsanstalt gehört. Die NWZ trat innenpolitisch für die Interessen der bürgerlichen Parteien ein und wahrte Distanz zur französischen Besatzungsmacht, weshalb sie mehrfach am Erscheinen gehindert wurde. 1930 erwarb Gustav Geisel die NWZ und nannte sie wieder »Wiesbadener Zeitung« (WZ).

1927 zeigte sich die NSDAP mit ihrem Organ »Nassauer Beobachter« auf dem Wiesbadener Pressemarkt. Bevor das Blatt 1930 unter dem Titel »Rheinwacht« (RW) zur Tageszeitung mutierte, erschien es zunächst nur vierzehntägig, dann wöchentlich. Der RW wurde mehrfach das Erscheinen untersagt; sie nannte sich ab 1931 »Nassauer Volksblatt« (NV), an das Gustav Geisel 1936 die WZ abtrat und von der das NS-Blatt auch die Geschäftsräume in der Bahnhofstraße/Ecke Rheinstraße übernahm. In Wiesbaden erschienen jetzt nur noch diese nationalsozialistischen Zeitung und das WT. Aus »kriegsbedingten Gründen« wurden am 30.06.1943 diese beiden Zeitungen zur »Wiesbadener Zeitung« zusammengelegt.

Mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen Ende März 1945 verschwand das Blatt. Bis zur Gründung des Wiesbadener Kuriers (WK) im Oktober 1945 war Wiesbaden erstmals seit 1770 eine völlig zeitungsfreie Stadt. Im Dezember 1948 brachte Gustav Geisel als Boulevard-Blatt die »WZ am Abend« heraus, musste aber bald feststellen, dass Wiesbaden kein Pflaster für ein Blatt dieses Genres war. Die Mainzer Verlagsanstalt (seit 1992 Verlagsgruppe Rhein Main) hatte mit ihrer Bezirks-Ausgabe der »Allgemeinen Zeitung« (AZ), den »Wiesbadener Nachrichten« (WN), mehr Erfolg.

Wie alle nach 1933 in der nunmehrigen amerikanischen Besatzungszone erschienenen Zeitungen durfte auch das WT erst 1949 wieder erscheinen. Unter Beibehaltung seines Namens kam es zum Anschluss an die in der Mainzer Verlagsanstalt (heute Verlagsgruppe Rhein Main) erscheinende »Allgemeine Zeitung«. Die Lokalredaktion blieb in Wiesbaden. Heute erscheinen WK und WT im Verlag »Rhein-Main-Presse« und residieren gemeinsam im ehemaligen Tagblatt-Haus, jetzt Pressehaus, in der Langgasse. Derzeit erscheinen WT und WK abgesehen vom Titelkopf in identischer Ausfertigung.

Literatur

Müller-Schellenberg, Guntram: Wiesbadens Pressegeschichte, Bd. 1: Von Napoleon zu Bismarck. Die Presse im Spannungsfeld von Kultur, Wirtschaft und sozialen Verhältnissen. Taunusstein 2011.

Stein, B.: Die Geschichte des Wiesbadener Zeitungswesens von den Anfängen bis zur Gegenwart, masch., ohne Ort und Jahr, vermutlich Wiesbaden 1943, ergänzt und erweitert von Guntram Müller-Schellenberg, Taunusstein 2009.