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Geschichte der Stadt

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Wiesbaden wird 122 n. Chr. als »Aquae Mattiacae« erstmals erwähnt. Ende des 4. Jahrhunderts eroberten Alamannen und Franken den Ort. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Zeugnisse des Christentums in der Stadt, das sich in fränkischer Zeit endgültig durchsetzte.

In der merowingisch-karolingischen Epoche dürfte das Gebiet um Wiesbaden fränkisches Königsgut geworden sein. Hierauf deutet die Einrichtung des 819 erstmals erwähnten karolingischen Königssondergaus (»Kunigessuntera«). Einhard, Staatsmann, Baumeister und Biograf Kaiser Karls des Großen, nennt Wiesbaden 830 »castrum quod moderno tempore Wisibada vocatur« (»der befestigte Ort, den man neuerdings Wiesbaden nennt«). Die damit erstmals mit ihrem modernen Namen genannte Ansiedlung war Vorort des Königssondergaus, hier befanden sich ein Königshof und eine königliche Eigenkirche. Dieses Reichsgut in und um Wiesbaden wurde von einem Grafen verwaltet. Um 1170/80 gelangte diese Funktion in die Hände der Grafen zu Nassau.

Die damalige mittelalterliche Stadt setzte sich aus drei Siedlungskernen zusammen: In der ummauerten »engeren« Stadt befanden sich der besonders befestigte Burgbezirk und die Häuser der Dienstleute und Burgmannen. Bis 1508 wurde allein dieser Burgbezirk als »Stadt« bezeichnet. In der Vorstadt oder dem »Flecken«, der durch Wälle und Gräben gesichert und landwirtschaftlich geprägt war, trafen die aus Mainz, aus Mosbach, Biebrich und aus dem Rheingau kommenden Straßen zusammen; hier lagen die Kirche und mehrere Adelshöfe. Im sogenannten Sauerland befanden sich die Bäder. Alle drei Siedlungskerne bildeten eine einzige Gemeinde unter einheitlicher Verwaltung.

Um 1232 wurde Wiesbaden zur Reichsstadt erhoben und 1241 in der Reichssteuerliste aufgeführt; demnach sollten die Bürger von den fälligen Steuern befreit werden und dafür die Stadtbefestigung ausbauen. Zum letzten Mal wird Wiesbaden 1242 als »imperatoris civitas« bezeichnet. In diesem Jahr wurde die staufertreue Stadt von der mainzischen Partei zerstört, es setzte der Abstieg zu einer unbedeutenden Landstadt ein. 1277/78 belehnte König Rudolf I. von Habsburg den späteren König Adolf zu Nassau mit Wiesbaden, um die Position des Reiches gegenüber Mainz zu stärken. Das Haus Nassau war, abgesehen von den Jahrzehnten um die Mitte des 13. Jahrhunderts, traditionell kaisertreu. Kaiserliche Gunstbezeugungen für die Reichsstadt, so das Recht, in Wiesbaden Heller zu schlagen und nach Silber zu graben (1329), blieben nicht aus. Erstmals bestätigte König Karl IV. 1348 den Stadtherren feierlich ihre Rechte. Dazu gehörten die Stadt selbst mit allem »Zubehör«, die Münze, die Biebricher Rheinfähre und der Zoll. 1351 folgte ein königliches Stadtrechtsprivileg für Sonnenberg. 1354 und 1367 wurde den Nassauern ihr Münzrecht bestätigt. Wiesbaden war eine weitgehend agrarisch geprägte Stadt. Die ortsansässigen Handwerker – am frühesten ist 1232 ein Schuster erwähnt – produzierten nur für den lokalen Bedarf. Mitglieder der Oberschicht dürften die Inhaber der Badhäuser gewesen sein, von denen im 15. Jahrhundert bereits 26 namentlich bekannt sind.

Religiöses Zentrum war die Mauritiuskirche, deren Ursprünge auf die Karolingerzeit zurückgehen, wenngleich sie erstmals 1248 schriftlich bezeugt ist. Um die Mauritiuskirche herum lag der mit einer Mauer umgebene Friedhof, auf dem bis ins 17. Jahrhundert Beisetzungen stattfanden. Eine 1330 gestiftete Michaelskapelle mit einem Beinhaus im Untergeschoss vervollständigte diesen religiösen Mittelpunkt. Es gab noch weitere Kapellen, so eine Marienkapelle »auf dem Sand« im Sauerland, die ins frühe 13. Jahrhundert zurückdatiert, und eine wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts errichtete Georgskapelle zwischen Michelsberg, Kirchgasse und Säumarkt, die vermutlich in Zusammenhang mit einem der Wiesbadener Adelshöfe stand. Im Bereich der alten Burg begnügte man sich lange Zeit mit einem Kapellenerker »auf dem Saal«, welcher der heiligen Anna geweiht war. 1477 wird eine eigene Burgkapelle mit dem Patrozinium Maria Magdalena erwähnt. Eine der Maria geweihte Kapelle befand sich im Hospital am Kochbrunnen. Sie wurde im Dreißigjährigen Krieg zerstört, während die anderen Gotteshäuser bereits nach der Reformation zerfielen und abgetragen wurden.

Über die Stadtregierung finden sich 1280 erste Nachrichten: Organ der gemeindlichen Selbstorganisation waren der Schultheiß und sieben Schöffen. Der Schultheiß (auch Erbschultheiß oder seit dem 14. Jahrhundert Amtmann) wurde vom Landesherrn eingesetzt; er war meist adeligen Standes, führte den Vorsitz im Schöffenkolleg und war für Rechtsprechung und Verwaltung zuständig. Von 1325 ist ein Gemeindesiegel mit gräflichem Wappenschild und der Umschrift »Sigillum universitatis oppidi Wysebaden« (»Siegel der Gesamtheit [der Einwohner] der Stadt Wiesbaden«) überliefert. 1355 wurde ein neues Gemeindesiegel eingeführt, das bis 1624 in Gebrauch blieb. Seit 1438 gab es zwei Bürgermeister, einen Geschworenen- und einen Schöffenbürgermeister oder Schultheiß – ein Hinweis darauf, dass den Bürgern ein stärkeres Mitspracherecht eingeräumt wurde. Neben dem Rat gab es ein weiteres Vertretungsorgan, die Bürgerversammlung. Beratungsgegenstände waren unter anderem steuerrechtliche Fragen, Angelegenheiten der Weidenutzung, der Zuzug von Neubürgern etc. Insgesamt gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein 22 regelmäßig bestellte Funktionsträger vor allem im Bereich der »guten Policey«: Nachtwächter, Feldschützen, Türmer, Pförtner usw.

Die Bestallung erfolgte meist durch das Stadtgericht, das der eher formellen Oberaufsicht des landesherrlichen Amtmannes – des ehemaligen Schultheißen – unterstand. Es regelte sämtliche in einer Kleinstadt anfallenden Verwaltungsaufgaben: Stadtverteidigung, Rechnungsführung, Erhebung von Steuern und Gebühren, polizeiliche Angelegenheiten. Zudem war es für die Einrichtungen zuständig, die von allen Bürgern gemeinsam zu nutzen waren, wie Back- und Brauhaus, Schmiede, Bad und das Nutzungsrecht an bestimmten Teilen der Feldmark. Das Stadtgericht tagte im 13. Jahrhundert auf dem Friedhof bei der Kirche, Verhandlungen fanden auch in einer »Laube« vor dem Haus eines der Schöffen oder des Bürgermeisters statt. 1609 wurde das heutige alte Rathaus erbaut.

Anfang des 16. Jahrhunderts musste die Stadt einige Rückschläge in ihrer Entwicklung hinnehmen. Die erste Zäsur war der Bauernkrieg, an dem sich im Mai 1525 zahlreiche Einwohner beteiligten. Der Zorn der Bürger richtete sich gegen die Stadtobrigkeit, die Geistlichkeit und den landesherrlichen Amtmann. Man forderte die Abschaffung der Holzfuhren für das Schloss, die freie Nutzung von Wasser, Weide und Wald. Nach der Niederwerfung des Aufstandes erkannte Graf Philipp der Ältere der Stadt viele ihrer Privilegien ab und schränkte ihre Freiheitsrechte ein. Die Bürger bemühten sich in den folgenden Jahrzehnten, diese zurückzuerhalten, was ihnen jedoch nur teilweise gelang. Die Reformation setzte sich in Wiesbaden in den 1540er-Jahren durch. Im April 1547 wurde die Stadt von einem schweren Brand heimgesucht, der fast die gesamte Bausubstanz sowie in weiten Teilen das städtische Archiv vernichtete. Einige weitere, wenn auch nicht so verheerende Stadtbrände veranlassten das Stadtgericht gegen Ende des Jahrhunderts, einen Nachtwächter einzustellen; auch wurde eine Feuerordnung erlassen. Im Dreißigjährigen Krieg hatte Wiesbaden sehr unter Überfällen und Einquartierungen zu leiden. Den endgültigen Frieden brachte das Jahr 1648.

1605 hatte Graf Ludwig II. zu Nassau-Weilburg die Herrschaft in Wiesbaden angetreten. Er scheint der Stadt im Rahmen des vergrößerten neuen Territorialverbandes eine zentrale Rolle zugedacht zu haben und beteiligte sie an den Zolleinnahmen, damit sie die Schulden für den Rathausbau abtragen konnte. Auch bestätigte Ludwig die seit dem Bauernkrieg verlorenen Privilegien. Zugleich war seine Regierungszeit eine der Herrschaftsverdichtung: Stärkere Kontrolle der städtischen Gremien und der Erlass von Polizeiordnungen dienten der Sicherung der Steuerleistung der Untertanen und ihrer sittlich-moralischen Erneuerung.

Der Regierungsantritt von Fürst Georg August Samuel zu Nassau-Idstein 1684 war ein noch bedeutenderer Einschnitt für die Stadt. Zu den ehrgeizigen Zielen des neuen Stadtherrn gehörten die Neuansiedlung von Bürgern, die durch steuerliche Vergünstigungen erreicht werden und zu einer Belebung von Handel und Gewerbe beitragen sollten, sowie städtebauliche Maßnahmen und die Errichtung einer Sommerresidenz am Biebricher Rheinufer. Finanziert wurden diese Projekte durch steigende Steuern der alteingesessenen Bürger, die sich zum Teil verfünffachten. Innerhalb Wiesbadens ließ Georg August Samuel neue Straßenzüge mit geschlossener Bauweise anlegen, das Schiff der Mauritiuskirche vergrößern und den Mauerring um die Stadt erweitern. Die Baumaßnahmen wurden der Aufsicht eines fürstlichen Werkmeisters unterstellt – einer von vielen Eingriffen in die städtische Verwaltung, die, zusammen mit der Unzufriedenheit über die steigenden Steuern, um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu innerstädtischen Unruhen führten. Die Zahl der Einwohner erhöhte sich von 644 im Jahr 1690 auf 1329 im Jahr 1722.

1744 wurde Schloss Biebrich Hauptresidenz des Teilfürstentums Nassau-Usingen, während der Sitz der Zentralbehörden nach Wiesbaden verlegt wurde. Zahlreiche Beamte und Militärpersonen zogen in die Stadt, ein beachtliches Bevölkerungswachstum war zu verzeichnen. Die Zentralbehörden setzten alles daran, das Leben in der Stadt den Erfordernissen einer Hauptstadt anzupassen. Die seit 1744 erlassenen sicherheits-, bau- und feuerpolizeilichen Verordnungen sowie die obrigkeitlichen Bestimmungen zur Preis- und Qualitätskontrolle für Nahrungsmittel und zur Reinhaltung der Straßen sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Steuerlast nahm immer mehr zu, es kam zu weiteren Unruhen und Konflikten, vor allem Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Opposition wandte sich gegen die Misswirtschaft des Rates und des Stadtgerichts mit dem Ziel, der alten Tradition bürgerlicher Mitbestimmung wieder stärkeres Gewicht zu verleihen. Trotz anfänglicher Erfolge scheiterte sie jedoch, die landesherrliche Kontrolle über die bürgerlichen Selbstvertretungsorgane wurde ausgedehnt und diese in die territoriale Verwaltungshierarchie eingegliedert. Um die »an Unordnung gewöhnten Bürger in der Furcht zu erhalten«, wurde 1757 ein spezielles Polizeigericht eingesetzt; das 1767 gegründete Zucht- und Arbeitshaus, eine rigide Preiskontrolle, aber auch die Austeilung von Domänenland an die Bevölkerung gehörten zu den disziplinarischen und strukturfördernden Maßnahmen der Landesregierung. Am Ende stand die weitgehende Entmachtung der lokalen Behörden.

Damit war der Weg frei für Wiesbadens Entwicklung zu einer modernen Stadt, zur Integration von Stadtverwaltung und Bürgergemeinde in den Staat. Dies wurde von der Einwohnerschaft umso eher akzeptiert, als zur gleichen Zeit von staatlicher Seite große Anstrengungen zur Belebung der städtischen Wirtschaft eingeleitet wurden. Dazu gehörte die Steigerung der Attraktivität Wiesbadens als Kurort, z. B. durch Theateraufführungen durchreisender Schauspieltruppen und durch die Zulassung von Glücksspielen, durch die Anlage und Pflege der Parks und Promenadenwege. Hygienevorschriften zur Abfallbeseitigung, Straßenreinigung und Wartung der Abwasserkanäle wurden erlassen. Der städtische Türmer wurde beauftragt, neben seinen Pflichten als Wächter Platzkonzerte zu veranstalten. 1769 gründete Karl Fürst zu Nassau-Usingen die erste Wiesbadener Druckerei, eine von ihm eingerichtete Fayencefabrik bestand bis 1795. 1794 wurde die Stadt Hauptquartier des preußischen und des kursächsischen Heeres und musste nach deren Abzug die Einquartierung französischen Truppen hinnehmen, die sich erst 1799 zurückzogen.

Um 1800 hatte Wiesbaden rund 2.500 Einwohner und noch immer überwiegend ländlichen Charakter. In den folgenden Jahrzehnten hielt jedoch die Moderne Einzug: Leibeigenschaft, Prügelstrafe und Handelshemmnisse wurden abgeschafft, viele technische Neuerungen waren zu verzeichnen. Die Initiative zum Ausbau der Stadt ging von staatlicher Seite aus. Auftakt dieser Entwicklung war der Beitritt zur Rheinbund und die die damit verbundene Erhebung Nassaus zum Herzogtum 1806. Binnen kurzer Zeit veränderte sich das Stadtbild grundlegend. Im Zuge der Niederwerfung Napoleons I. wurde die Stadt erneut zum Sammelplatz von Truppen. Nach deren Abzug und trotz drückender Kriegsschulden nahmen der Ausbau der Stadt und die Entfaltung kulturellen Lebens ihren Fortgang. Der Anschluss an den Deutschen Zollverein 1836 und die Modernisierung der Infrastruktur trugen zum Bevölkerungsanstieg und zum generellen Aufschwung der Stadt bei. Wiesbaden war hauptstädtischer Mittelpunkt und Ort der Repräsentation. Es diente als Winterresidenz der Herzöge zu Nassau, während die Biebricher Hofhaltung Rückzugsort für das private fürstliche Leben blieb.

Bis zum Edikt zur Neuregelung der Gemeindeverfassung (1816) konnten den Bürgern per Hoheitsakt bestimmte Rechte erteilt, aber auch wieder entzogen werden. Stadtbürger war, wer das Bürgerrecht erworben hatte. Nicht zur Bürgerschaft gehörten Geistliche, Staatsdiener, Militärs, Hofbedienstete und die sogenannten Beisassen, selbstständige Personen ohne Hausstand, meist Tagelöhner. 1816 fand eine Ausweitung des Bürgerbegriffs statt: Die Klasse der Beisassen fiel weg. Jetzt durfte jeder männliche Einwohner, sofern sein Einkommen gesichert war, Ortsbürger werden. Bürgersöhne wurden allerdings bevorzugt; Zuzugswillige von auswärts hatten eine höhere Gebühr zu zahlen. Nur wer das Bürgerrecht besaß, durfte ein Gemeindeamt bekleiden.

An der Spitze der Verwaltung stand der auf Lebenszeit ernannte Schultheiß, der das städtische Siegel führte, die landesherrlichen Rechte wie die gemeindlichen Interessen wahrte und dem die in der Stadtverwaltung tätigen besoldeten Bediensteten unterstanden. Als Vertreter der Bürgerschaft fungierten zwölf »Ratsfreunde«, die mit dem Schultheiß den Stadtrat bildeten. Als Folge der Revolution von 1848/49 erhielten die nassauischen Gemeinden erweiterte Rechte, insbesondere das der selbstständigen Verwaltung ihres Vermögens und der Handhabung der Ordnungspolizei. Der Schultheiß wurde endgültig durch den Bürgermeister ersetzt. Zusammen mit den Gemeinderäten bildete er den Gemeinderat, dessen Verhandlungen öffentlich waren. Nach der Annexion Nassaus wurde Wiesbaden Hauptstadt eines Regierungsbezirks. Ein lange befürchteter Eingriff der neuen Regierung war die Aufhebung des Spielkasinos 1872. Die finanziellen Einbußen hielten sich allerdings in Grenzen und konnten weitgehend durch die 1870 eingeführte Kurtaxe kompensiert werden. Zum 01.01.1873 ging der Kurbetrieb mit allen Etablissements und der Burgruine Sonnenberg in städtische Regie über. 1873 wurde das letzte Relikt der alten Stadtbefestigung, der Uhrturm, abgetragen. 1883/87 entstand der Rathausneubau.

Nach einer schweren Typhusepidemie von 1885 wurde ein systematisches Kanalisations- und Entwässerungswerk gebaut. Neue Hotels, Kirchen, Krankenhäuser und Schulen wurden errichtet. 1899 gingen die Landesbibliothek, die Gemäldegalerie und die Sammlung Nassauischer Altertümer an die Stadt über und erhielten in der Folgezeit neue Gebäude. Weitere große Bauvorhaben waren der Hauptbahnhof, das neue Kurhaus, das neue Theater und das Kaiser-Friedrich-Bad. In Wiesbaden trafen sich der Adel und die Geldaristrokratie, an der Spitze Kaiser Wilhelm II., der so häufig hier weilte, dass Wiesbaden neben Berlin und Potsdam als dritte preußische Stadt die Erlaubnis erhielt, sich Residenzstadt nennen zu dürfen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Wiesbaden zudem zum bevorzugten Ruhesitz reicher Privatleute geworden. 1913 besuchten 192.108 Fremde die Stadt, fast das Doppelte der Einwohnerzahl.

Das Ende des jahrzehntelangen Aufschwungs zeichnete sich mit dem plötzlichen Stillstand des Bevölkerungszuwachses 1908 und dem Zusammenbruch des Baubooms ab. Zahllose, auf Vorrat gebaute Mietwohnungen standen leer. Die Kur stagnierte, da es jetzt Mode wurde, statt in die Taunusbäder z. B. in die Wintersportplätze der Alpen oder an die Riviera zu reisen. Der Abwärtstrend verschärfte sich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der die Stadt als vor allem auf ausländische Gäste angewiesenen Kurort besonders hart traf. Ein allgemeiner wirtschaftlicher Niedergang war die Folge. Viele Hotels wurden beschlagnahmt und dienten als Lazarett. Das Kriegsende brachte keine Besserung der Lage: Französische Besatzungstruppen rückten ein, die Freizügigkeit der Bewohner wurde stark eingeschränkt. Bis 1930 blieb die Stadt besetzt.

Ende Oktober 1919 fand die Neuwahl des Stadtparlaments statt; erstmals waren Frauen hierbei gleichberechtigt. Ende 1925 wurde die Stadt für vier Jahre zum Hauptquartier der britischen Rheinarmee. Im November 1929 verlegte die Hohe ➞ Interalliierte Rheinlandkommission ihren Sitz von Koblenz nach Wiesbaden, die britischen Truppen zogen ab, an ihrer Stelle rückte erneut ein französisches Bataillon in die Stadt ein. Die Besatzungszeit brachte einen weiteren Niedergang für die Kurstadt, auch wenn die Eingemeindungen von 1926 und von 1928 ihr größeren wirtschaftlichen Spielraum verschaffte. Am 30.06.1930 zogen die Besatzungstruppen ab. Die damit verbundenen Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht, da die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auch hier längst spürbar geworden waren: Die Zahl der Gäste sank erneut drastisch, die Landesversicherungsanstalten und die meisten Krankenkassen stellten zum Herbst 1931 die Bewilligung von Kuren für ihre Mitglieder vollständig ein. Von den rund 150.000 Wiesbadener Bürgern lebte jeder Dritte von Arbeitslosen- oder Wohlfahrtsunterstützung. Die Zahl der Arbeit Suchenden stieg von 8.000 im Jahr 1928 auf 20.000 im Februar 1933. Die städtische Finanzlage war so ausweglos, dass 1930 und 1931 die Regierung einen Staatskommissar entsandte, der einen Zwangsetat festsetzte.

Die prekäre wirtschaftliche Situation förderte die politische Radikalisierung der Bevölkerung: Bei den Reichstagswahlen vom 20.05.1928 hatten die Nationalsozialisten mit fast 7.000 Stimmen ihren ersten größeren Erfolg erzielt und stiegen mit den Reichstagswahlen vom September 1930 zur stärksten Partei auf. Gegen die NS-Diktatur regte sich auch in Wiesbaden früher Widerstand, getragen zumeist von Sozialdemokraten und Kommunisten. Wiesbaden wurde wieder Garnisonstadt: Am 05.10.1936 zog das 3. Bataillon des Infanterie-Regiments 38 ein, das Kavalierhaus wurde zum Sitz des Generalkommandos des XII. Armeekorps bestimmt. Das Stellvertretende Generalkommando XII sollte später zu einer der Keimzellen der Umsturzbewegung des 20. Juli 1944 werden. Die in der Kaiserzeit errichteten Kasernen an der Schiersteiner Straße wurden weiter ausgebaut.

Auch in Wiesbaden wurden in der Reichspogromnacht 1938 jüdische Geschäfte zerstört und brannten die Synagogen. Über 1.500 Juden wurden deportiert und ermordet. Unter den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs hatte die Stadt insgesamt weniger zu leiden als andere Großstädte, im Februar 1945 jedoch wurden Innenstadt, Kurbezirk und Quellenviertel hart getroffen. Etwa 8.000 Wiesbadener Wohnungen wurden zerstört, rund 500 Menschen starben. Wenig später zeichnete sich das Ende der NS-Herrschaft ab. In der Nacht zum 28.03.1945 verließen die Wehrmacht und der letzte Stadtkommandant die Stadt, um die Mittagszeit rückten amerikanische Truppen ein.

Die Amerikaner stellten die Weichen für eine Umorientierung der ehemaligen Kurstadt hin zur Behörden-, Verlags- und Filmstadt. Die hessischen Ministerien wurden im ehemaligen Stadtschloss und im Kavalierhaus untergebracht; die Stadtverordnetenversammlung konnte erst 1951 das provisorisch wiederhergestellte Rathaus beziehen. Am 21.04. wurde der 1933 entlassene Jurist Georg Krücke als neuer Oberbürgermeister wieder eingesetzt. Hauptproblem war die Versorgungslage. Das schnelle Wiederanwachsen der Einwohnerzahl verschärfte die Situation: Bei Kriegsende waren etwa 123.000 Menschen gezählt worden, im Juni waren es bereits 143.000, bis 1948 stieg die Zahl auf knapp 200.000. Seit Anfang 1946 ging die Lebensmittelproduktion kontinuierlich zurück, das tägliche Kalorienkontingent sank auf 850 pro Person. Die Amerikaner versuchten durch Carepakete und schließlich durch Mittel aus dem sogenannten Hoover-Plan gegenzusteuern, doch erst nach der Währungsreform 1948 entspannte sich die Situation. Fast so drängend wie das Ernährungs- war das Wohnungsproblem: 46 Hotels und über 3.000 Privatwohnungen waren beim Einmarsch beschlagnahmt worden. Hinzu kam der stetige Strom von Flüchtlingen. Für die Beamten der neuen Ministerien mussten 1.000 Wohnungen bereitgestellt werden. Als Reaktion wurde die Gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft gegründet, die 1946 mit dem Bau von Wohnungen in der Siedlung Kohlheck ihre Arbeit aufnahm. Ein großes Bauvorhaben war die Großsiedlung am Hainerberg für die Amerikaner. Bis 1953 konnten Rathaus, Kurhaus und das zerstörte Quellenviertel wiederhergestellt werden. Bei der ersten Wahl zur Stadtverordnetenversammlung am 26.05.1946 errangen CDU und SPD mit rund 41 und 38 % die meisten Stimmen, der bisherige Oberbürgermeister Krücke wurde durch Hans Heinrich Redlhammer abgelöst.

Wenige Wochen nach Kriegsende übersiedelten mehrere Verlage von Leipzig nach Wiesbaden. Namhafte Filmproduktionsfirmen wurden auf dem Gelände Unter den Eichen ansässig, von 1963–85 nutzte das ZDF die hiesigen Studios. Spitzenorganisationen des Films zogen ins Biebricher Schloss ein. Diverse Bundesoberbehörden, die Wehrbereichsverwaltung IV (1956) sowie Banken und Versicherungen ließen sich in Wiesbaden nieder. 1960 war die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor genauso hoch wie die der in der Industrie tätigen Arbeitnehmer, Wiesbaden entwickelte sich zur »Beamtenstadt«. Weitere politische Weichenstellungen betrafen die Entwicklung zum modernen Gesundheitsstandort und zur Kongressstadt mit den 1957 errichteten Rhein-Main-Hallen als Zentrum. Mit der letzten Eingemeindungswelle von 1977 erreichte die Stadt ihre größte Ausdehnung, die Einwohnerzahl betrug rund 275.000.

Die autogerechte Stadt wurde auch in Wiesbaden propagiert. Hauptprotagonist war der Städteplaner Ernst May. Entscheidender Widerstand ging von den Wiesbadener Jungsozialisten aus, die unter dem Motto »Rettet unsere Stadt – jetzt« Unterschriftensammlungen und Bürgerinitiativen organisierten. 1971 wurde der May-Plan endgültig abgelehnt. Seitdem stieg das Bewusstsein für die Bedeutung der Bausubstanz des Historismus, zuletzt gefördert durch den Landesdenkmalpfleger Gottfried Kiesow und seine Veröffentlichungen.

Literatur

Bleymehl-Eiler, Martina: Stadt und frühneuzeitlicher Fürstenstaat: Wiesbadens Weg von der Amtsstadt zur Hauptstadt des Fürstentums Nassau-Usingen (Mitte des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts), 2 Bde., ungedruckte Dissertation, Mainz 1998.

Glaser, Heike: Demokratischer Neubeginn in Wiesbaden. Aspekte des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus nach 1945, Wiesbaden 1995 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden 4).

Müller-Werth, Herbert: Geschichte und Kommunalpolitik der Stadt Wiesbaden unter besonderer Berücksichtigung der letzten 150 Jahre, Wiesbaden 1963.

Renkhoff, Otto: Wiesbaden im Mittelalter, Wiesbaden 1980 (Geschichte der Stadt Wiesbaden 2).