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Wirtschaftsgeschichte

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Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war Wiesbaden eine Ackerbürgerstadt: So verfügten 1804 noch 284 von 400 Haushalten über eine kleine Landwirtschaft mit Viehhaltung. Es gab keinen nennenswerten Handel, wenig Gewerbe überregionalen Charakters, die Oberschicht der Bürgerschaft bezog ihr Vermögen aus dem Betrieb von Gast- und Badhäusern, aus der Spielbankpacht oder aus der Tätigkeit als höhere Beamte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügten nur drei Handelsleute und ein Krämer über ein Vermögen von mehr als 8.000 fl. Diese Werte waren zudem weitgehend in Immobilien und Rentenvermögen angelegt, d. h. aktives Kapital in Form von Handelskapital und Warenvorräten war kaum zu verzeichnen. Die Gründung von Manufakturen und Fabriken blieb die Ausnahme.

Mit der Aufhebung der Zünfte in Nassau 1819 und dem Ausbau der Infrastruktur nahmen Handwerk und Gewerbe allmählich zu. Es entstanden einige Fabriken wie die Tuchfabrik der Gebrüder Löwenherz im Nerotal (1842) und die ebenfalls im Nerotal ansässige Lohmühle von Franz Caspar Nathan. Beide Betriebe riefen jedoch wegen der Verunreinigung des Nerobachs den Widerstand der Bevölkerung hervor und mussten die Produktion einstellen. 1836 schloss sich Nassau an den Zollverein an, 1852 wurde im Herzogtum ein einheitliches System von Maßen und Gewichten eingeführt.

1843 wurde in Wiesbaden der Nassauische Gewerbeverein gegründet. Von seinen 812 Mitgliedern bezeichneten sich im Jahre 1847 14 als »Fabrikanten«. Zu den Aufgaben des Vereins zählten die Abnahme von Gesellenprüfungen und Werbemaßnahmen für die eigenen Produkte; so führte er seit dem Oktober 1846 regelmäßig Industrieausstellungen durch, auf denen die Erzeugnisse des heimischen Gewerbes präsentiert wurden. Zukunftsweisend war die Einrichtung eines chemischen Laboratoriums für Ausbildungszwecke durch den Chemiker Carl Remigius Fresenius 1848 in der Kapellenstraße.

Im Juni 1860 wurde in Nassau die allgemeine Gewerbefreiheit eingeführt. Nun ließen sich in der Stadt auch viele Auswärtige nieder. 1863 wurde für das Herzogtum Nassau eine Handelskammer mit Sitz in Wiesbaden gegründet. Trotzdem gab es 1861 in Wiesbaden nur 252 abhängig beschäftigte männlich Arbeiter, die sich auf eine Woll-, eine Tuch- und zwei Seidenfabriken, sieben Webstühle, zwei Walkmühlen, eine Eisengießerei (mit immerhin 16 Arbeitern), fünf Kalkbrennereien, 14 Ziegeleien, zwei Porzellanfabriken, vier Ölraffinerien, zwei Mühlen, fünf Bier- und 15 Branntweinbrauereien, eine Stahlfederfabrik, zwei Essigfabriken, zwölf Wassermühlen verteilten. Die höchste Beschäftigungszahl wies mit 38 Arbeitern die Gasbeleuchtungsgesellschaft auf. Lediglich sechs Dampfmaschinen mit insgesamt 36 PS wurden im selben Jahr für die Produktion eingesetzt.

Für Wiesbadens Dienstleistungssektor nach wie vor von großer Bedeutung ist die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Ansiedlung von Versicherungen. Auch Unternehmen der Renten- und Lebensversicherungsbranche wählten Wiesbaden zum Standort ihrer Zentralen; 1866 waren es deren bereits 16. Im selben Jahr waren hier acht Banken ansässig, drei der Bankiers gehörten zu den höchst besteuerten Bürgern der Stadt. 1840 wurde mit der Landeskreditkasse ein erstes staatlichen Kreditinstitut gegründet (seit 1849 Nassauische Landesbank). 1860 etablierte sich die genossenschaftlich organisierte Vorschusskasse, zwei Jahre später nahm der neue »Verband der Wirtschaftsgenossenschaften am Mittelrhein« seinen Sitz in Wiesbaden. 1865 entstand der Wiesbadener Sparkassenverein, der 1913 in der Vereinsbank aufging.

Industrielle Ansiedlungen entstanden in Biebrich und Amöneburg. Ebenfalls in Biebrich gründete Wilhelm Gail 1858 eine Fabrik für Parkettböden und Holzbearbeitung mit eigenem Sägewerk; sie beschäftigte um 1910 rund 200 Arbeiter. Schierstein ist der Standort der 1897 gegründeten Glyco Metallgesellschaft (Federal-Mogul Wiesbaden). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sich das Gelände um den Bahnhof Dotzheim als neues Industriegebiet durch. Einer der bedeutendsten Dotzheimer Betriebe war die Maschinenfabrik Wiesbaden GmbH, die aus dem Zusammenschluss der um 1860 gegründeten Firmen von Wilhelm Philippi und Carl Kalkbrenner hervorgegangen war. Sie produzierte 1910 Aufzüge, Krane, elektrische Hebevorrichtungen, Heizungsanlagen und Eisenkonstruktionen aller Art.

Die Produkte anderer Wiesbadener Firmen sind im weitesten Sinne der Medizin-Technik zuzurechnen. Noch heute blüht das Institut F. Ad. Müller Söhne, Atelier für künstliche Augen. Die Firma Rossel, Schwarz und Co., die 1897 Dotzheim zu ihrem Sitz wählte, stellte orthopädische Apparate her. Ein Zulieferbetrieb für die pharmazeutische Industrie war die Vaselinefabrik und Mineralöl-Raffinerie von Dr. Th. Steinkauler, die 1892 ihren Sitz von Frankfurt am Main nach Biebrich verlegte.

Zwei große Brauereien, die 1890 in Biebrich gegründete »Makkaroni- und Eierteigwaren-Fabrik Vater und Co. GmbH«, mehrere Abfüllereien für Mineralwasser und schließlich die expandierende Wein- und Sekt-Industrie belegen den Aufschwung der Nahrungsmittel- und Genussgüterindustrie. Die Grundlage für Wiesbaden als Zentrum der europäischen Sektproduktion legte der Weinhändler Johann Jacob Söhnlein, dessen »Rheingauer Schaumweinfabrik« 1864 in Schierstein ansässig wurde. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde Söhnlein von der Sektkellerei Henkell AG überrundet, die ihre Produktionsstätte 1909 von Mainz nach Biebrich verlegt hatte. 1987 fusionierten Söhnlein und Henkell und firmierten bis 2009 als »Henkell und Söhnlein Sektkellereien KG«.

Noch 1913 hatte die Zahl der auswärtigen Gäste rund 200.000 betragen. Das Ende des ersten Weltkriegs brachte jedoch den Zusammenbruch des Kurwesens in seiner alten mondänen Ausprägung. Einen Einbruch erlebten seinerzeit auch viele Industriezweige. Dagegen etablierte sich Wiesbaden nach dem Zweiten Weltkrieg als Verlagsstadt und als Standort der Filmindustrie. Neben vielen Traditionsunternehmen des produzierenden Gewerbes haben sich in der Nachkriegszeit in Wiesbaden zahlreiche Hightech-Firmen angesiedelt. Seit 1983 befindet sich die deutsche Niederlassung der amerikanischen Dow Corning Corporation, Marktführer für Silikontechnologie, in der hessischen Landeshauptstadt. Von hier aus werden die Entwicklungs- und Expansionsprojekte nach Osteuropa gesteuert. Seit 1977 produziert die Eckelmann AG Systeme für die elektronische Maschinensteuerung. Das inzwischen britische Unternehmen Smiths Heimanns stellt Röntgenprüfsysteme für Kontrollstellen auf Flughäfen her. Betonveredelung und Korrosionsschutz sind das Markenzeichen der Sinnotec GmbH. Als Ausgründung aus dem Gesundheitskonzern Abbott entstand 2013 das forschende Biopharma-Unternehmen AbbVie.

Im Dienstleistungssektor prägen insbesondere Wirtschaftsprüfungs-, Unternehmens- und Steuerberatungsfirmen das moderne Gesicht Wiesbadens, das aufgrund von Niederlassungen der Telekommunikations-, Industrie- und Unterhaltungselektronik erneut zum Medienstandort wurde. Damit hat sich die Struktur der alten Kurstadt in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig verändert.